Telegram: Letzte Bastion der Meinungsfreiheit oder Umschlagplatz für Drogen, Sex und Propaganda?
Wann immer Menschen, Regierungen und Medien misstrauen, professionell die Nachrichten-App Telegram. Neuerdings treibt der libertäre Gründer Pawel Durow das Misstrauen aktiv an.
Für Tucker Carlson ist klar: Pawel Durow ist ein Held. «Warum bist du nicht der ‹Man of the Year› des Magazins ‹Time›? Warum ist dein Gesicht nicht auf der Nickel-Münze?“, fragt der von seinem Senderfeuer getete Moderator, bekannt für seine Wutreden über „die Eliten“, Durow bei einem Interview im April 2024.
Pawel Durow ist der Gründer der Nachrichten-App Telegram. Und Carlsons Begeisterung kommt daher, dass diese App, anders als andere soziale Netzwerke, kaum in das eingreift, was Leute dort treiben.
Lange galt Telegram als die Kommunikations-App der Wahl von Demokraten in China oder Iran, die sich gegen Unterdrückung auflehnten. Im Westen nutzten die Plattform Privatsphäre-Aktivisten, die Facebook und Google nach dem NSA-Skandal misstrauten.
Das ist einige Jahre her. Wer heute in Zürich Nutzer «in der Nähe» sucht, findet Frauen mit tiefen Ausschnitten und Profil mit Namen wie «Drug Market» und «Weed Meth Crystal». Es werden nicht nur Drogen auf Telegram gehandelt, sondern auch gefälschte Dokumente und raubkopierte Filme.
Reichsbürger und Terroristen organisieren sich weitgehend unbehelligt mit der App. Russland nutzt Telegram zur Verbreitung von Propaganda. Während der Pandemie konnte man ungehindert Falschinformationen und Verschwörungserzählungen verbreiten.
In Tucker Carlsons Beschreibung war Telegram der einzige Ort im Internet, an dem Wahrheiten über Covid nicht zensiert wurden. Für andere gleicht die App mehr und mehr dem Dark Web, also dem verschlüsselten Parallelinternet, wo illegale Dinge gehandelt werden. Nur ist Telegram offen zugänglich.
Durows Auftritt bei Carlson ist nicht zufällig. Denn er kuratiert seine Medienpräsenz ganz genau. Acht Jahre lang kommunizierte er allein über seinen Telegram-Kanal und Instagram, wo er alle paar Monate ein Bild seines muskulösen Oberkörpers postete.
Nun hat er seine Strategie offenbar geändert. Das Interview ist Teil einer Kampagne, welche die Idee verbreiten soll, Telegram sei die einzige vertrauenswürdige Nachrichten-App, die einzige freie Social-Media-Plattform.
Jung, klug, libertär: der Mann hinter Telegram
Um die Veränderung von Telegram zu verstehen, muss man sich Pawel Durow näher ansehen. Er ist zweifellos ein außergewöhnlicher Mensch. Niemandem sonst ist es gelungen, gleich zwei erfolgreiche soziale Netzwerke zu gründen. Durow schaffte es vor seinem 30. Geburtstag.
Durow ist 1984 in Russland geboren, seine Kindheit verbrachte er in Italien. Sein Vater lehrte Philologie an der Universität von Turin. Pawel Durow war ein exzellenter Schüler, sein älterer Bruder Nikolai geradezu ein Wunderkind, das mit acht Jahren quadratische Gleichungen im Kopf gelöst haben soll.
«Besitzer, Geschäftsführer und Produktmanager in einem»: Pawel Durow über Telegram im Interview mit Tucker Carlson.
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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zog die Familie für den Job des Vaters nach Sankt Petersburg, im Gepäck eines IBM-Computers, im Russland der 1990er Jahre eine Seltenheit. Damit programmierte Pawel Durow Webseiten für seine Studienkollegen. Mit 21 gründete er VKontakte, das russische Pendant zu Facebook. Das war im Jahr 2006.
Durow bezeichnet sich selbst als libertär. Freiheit und Wettbewerb sind seine Leitprinzipien, der Staat soll sich so wenig einmischen wie möglich. Er war nicht der Einzige, der in den frühen 2000er Jahren daran glaubte, dass Russland zum libertären Tech-Paradies werden würde. Wenig Regulierung, wenig Steuern und starke mathematische Bildung, ein Erbe aus Sowjetzeiten – so wollte man dem Silicon Valley Konkurrenz machen.
Doch je erfolgreicher Durows Plattform wurde, desto schwieriger wurde es mit der Freiheit.
Konflikt mit dem Kreml und Flucht aus Russland
2011 geriet Durow im offenen Konflikt mit Putins Regierung. Damals gingen in Russland Hunderttausende gegen Wahlbetrug auf die Straße. Als die Polizei von ihm Informationen über Organisatoren wollte, weigerte er sich.
2014 verlangte die Regierung die Blockade der VKontakte-Seite des Oppositionellen Alexei Nawalny. Durow gab sie nicht heraus. Doch VKontakte gehörte großen Investoren, die Druck machten. „Ich hatte zwei Optionen“, sagt Durow zu Tucker Carlson, „ich hätte bleiben können und alles tun, was die Regierung verlangte – oder meine Anteile verkaufen und das Land verlassen.“
Durow wählte das Exil. Er verkaufte VKontakte für einen schlechten Preis und setzte sich nach Dubai ab, sein nächstes Baby hatte er schon dabei: den Telegram-Messenger. Diesmal würde er die Kontrolle behalten.
Bis heute gehört die Firma ihm allein. „Ich bin Besitzer, Geschäftsführer und Produktmanager in einem“, sagt er bei Carlson. Nur durch Anleihen und eine eigene Kryptowährung verschafft er sich fremdes Geld.
Durows Geschichte macht ihn glaubwürdig. Er weiß, dass sie sein Kapital ist. Das ist wohl auch der Grund, warum er nach acht Jahren, in denen er mit keinem Journalisten gesprochen hat, sich von Tucker Carlson im Video interviewen lässt. Hier kann er seine Geschichte ungestört von kritischen Nachfragen ausbreiten.
Tucker Carlson spricht zu einem Publikum, das dem amerikanischen Staat, den Eliten, den Politikern misstraut. Dazu passt Durows Erzählung, die so klingt, als wären Russland und die USA ähnlich repressiv.
Er erzählt im Interview von Hausbesuchen durch das FBI, als er sich in den USA aufhielt. Man habe versucht, einen seiner Ingenieure zu kaufen und dazu zu bringen, eine Hintertür in die Verschlüsselungs-Software einzubauen.
Deshalb habe er sich für die Vereinigten Arabischen Emirate als Standort entschieden: „Ein kleines Land, das mit allen befreundet sein will und keine geopolitischen Allianzen zu Supermächten hat, ist der beste Ort für eine neutrale Plattform wie uns, wenn wir die Privatsphäre und Redefreiheit unserer.“ Nutzer wollen schützen.»
Das ist ein Seitenhieb gegen seine Konkurrenz mit Sitz in den USA. Wenige Wochen nach dem Interview greift Durow diese direkt an. Er deutete an, die Verschlüsselung der WhatsApp-Alternative Signal sei unsicher – Medien und Behörden in den USA hätten aus privaten Chats bekannter Menschen zitiert.
Telegram ist unsicherer als sein Ruf
Diese Aussage widerspricht jenen von Dutzenden Kryptografie-Experten, die den Programmcode von Signal genaustens untersucht haben und von seiner Sicherheit überzeugt sind. Beweise für seine Behauptungen liefert Durow nicht. Offenbar schwärzt er die Konkurrenz an, um sein eigenes Produkt zu bewerben.
Dabei ist Telegram technisch gesehen gar nicht so sicher, wie viele glauben mögen. Anders als bei Signal und Whatsapp sind Telegram-Konversationen normalerweise unverschlüsselt. Wer das ändern will, muss eigens den «geheim»-Modus auswählen. Für Nachrichten in Gruppen oder Kanälen ist dieser nicht verfügbar. Die meisten Chats liegen auch gänzlich unverschlüsselt auf den Servern der Firma.
Für Telegram sind diese Daten ebenfalls grundsätzlich einsehbar. Wer verbotenes tut, muss darauf vertrauen, dass Durow die sensiblen Daten nicht weitergeben wird.
Durow herrscht alleine über Telegram
Aleksandra Urman, die am Institut für Informatik der Universität Zürich seit Jahren soziologische Forschung zu Telegram macht, glaubt nicht, dass es Anlass gibt, Durow in dieser Sache ganz grundsätzlich zu misstrauen.
Eine Kooperation mit Russland findet sie unwahrscheinlich, schließlich hielt Durow den Anfragen autoritärer Staaten oft sogar stärker stand als westliche Tech-Unternehmen.
2018 wollte Russland Telegram blockieren und scheitern, weil Durows Team technisch überlegen war. Bei den Protesten gegen die chinesische Repression in Hongkong ab 2019 setzten Demonstranten auf seine App, um sich zu organisieren, weil Apple einen von ihnen genutzten Dienst auf Anforderung der chinesischen Regierung gesperrt hatte.
Und auch, dass Durow 2021 Inhalte der russischen Opposition blockierte, muss man im Kontext sehen. Durow greift ein, weil Apple und Google drohten, Telegram sonst aus ihren App-Stores zu löschen. Sie kamen den Forderungen Russlands immer wieder nach. Selbst im März 2024 löschte Apple noch auf Anweisung der russischen Zensurbehörde eine Wahl-App der russischen Opposition aus seinem App-Store.
Trotzdem findet es Aleksandra Urman unvorsichtig, sich auf Telegram zu verlassen, vor allem weil Durow ein unkontrollierter Alleinherrscher über die App ist. «Wenn Durow eines Tages doch beschließt, mit Russland oder Iran zu kooperieren, wäre das für viele Nutzer katastrophal.»
Telegram missachtet alle kryptografischen Standards
In Russland ist Telegram Standard und auch viele Regierungskritiker nutzen die App, haben aber einige schlechte Erfahrungen gemacht. Plötzlich schienen Polizei oder Geheimdienste Informationen zu besitzen, die sie nur aus Telegram-Konversationen erfahren haben konnten.
Für Kenny Paterson, Informatik-Professor an der ETH Zürich, ist es „durchaus denkbar“, dass manche Regierungen Hintertüren bei Telegram haben. Beweise dafür gibt es nicht.
Doch Paterson hat den Programmcode der App analysiert und sagt: „Die Verschlüsselung von Telegram ist ein einziges Chaos.“ Er konnte zwar nicht sagen, dass die App deshalb unsicher sei. missachte Telegram Allerdings sämtliche kryptografische Standards, die die Wissenschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten hervorgebracht habe.
Tatsächlich basiert Telegrams Verschlüsselung auf den Ideen von Durows Bruder. Auf dessen Genie vertraut er. Und auf das seines nur rund dreissig Ingenieure, die er bei einem Coding-Wettbewerb rekrutierte. Standards passen nicht in sein libertäres Weltbild. Das macht es für alle anderen schwierig, die Sicherheit der App einzuschätzen.
Telegram ist Plattform der Wahl für Verschwörungstheorien
Zugleich verwenden immer mehr Menschen die Plattform. 800 Millionen Nutzer hat Telegram bereits, eine Milliarde strebt Durow an. Seit Anfang der Pandemie hat sich die Nutzerzahl verdoppelt.
Im Westen wächst Telegram wegen seines Rufs als unzensierte App. Heute versucht die russische Regierung nicht mehr, Telegram zu blockieren, sondern nutzt es für eigene Zwecke. Zwar bleibt Telegram die wichtigste Plattform für die ins Exil getriebenen freien Medien – nur über Telegram-Kanäle kann man ihre Inhalte in Russland ohne technische Hürden lesen. Zugleich hat die Regierung die Plattform mit Propaganda geflutet.
Die Mehrheit der russischen Telegram-Kanäle unterstützten den Krieg in der Ukraine und Putin, sagt die Forscherin Urman. Und auch auf deutschsprachigen Telegram-Kanälen sind ihre Untersuchungen nach einer prorussischen Sicht auf den Krieg besonders stark verbreitet.
Die Verwandlung von Telegram hat mit Corona zu tun. Wer gegenüber Massnahmen oder der Impfung skeptisch war, fand dort Gleichgesinnte – und oft auch die Inhalte politisch extremer Influencer: „Wir haben beobachtet, dass in Gruppen, in denen sich Impfgegner informieren wollten, immer radikalere Inhalte geteilt wurden“, sagt Urman.
Nach der Pandemie geht die Covid-Skepsis zum Teil direkt in „Krieg-Skepsis“ über. Es kursieren prorussische Verschwörungstheorien. «Manche leugnen sogar, dass es in der Ukraine einen Krieg gibt.» Dabei seien nicht alle prorussischen Influencer von Russland finanziert worden, sagt Urman: „Manche glauben selbst an das, was sie da verbreiten.“
Bei Tucker Carlson ist keine Rede von Drogen und Raubkopien
Durow lässt das meiste geschehen, ganz unzensiert ist die App aber nicht. Dann und wann greift er ein, meist auf Druck von Regierungen oder Apple und Google, die ihm Blockaden androhen.
Bei Tucker Carlson ist keine Rede davon, dass auf Telegram illegale Kopien von Büchern und Filmen getauscht und Drogen gehandelt werden. Auch nicht davon, dass Durow auch schon politische Inhalte blockiert hat, etwa die Kanäle von Russia Today, als die EU das gesetzlich beschlossen hat.
Durow nennt Bloss Terrorismus und das Verbreiten von Gewalt als Beispiele legitimer Anfragen von Regierungen. Selbst das sah er 2017 noch anders. Damals musste ihn Indonesien dazu zwingen, Propaganda-Kanäle der Terrormiliz IS zu löschen.
In dem Interview machen Durow und Carlson keinen Unterschied zwischen Moderation und Zensur. Löschanfragen sind für ihn Löschanfragen, egal ob sie von demokratischen Regierungen kommen oder von solchen, die Oppositionelle und Journalisten ermorden lassen.
Es gibt zwei Botschaften, die Zuschauer aus dem Interview mitnehmen sollen: Erstens, Telegram ist die einzige sichere und freie App, zweitens, die Freiheit der Menschen auch in den USA ist bedroht. Ob Durow diese Dinge selbst glaubt, ist unklar.
Telegram Stärke vom Misstrauen gegenüber den USA
Selbst Tucker Carlson reagiert skeptisch, als Durow sagt, er wolle nicht in die Geopolitik eingreifen. Denn natürlich sind die Regeln, die sich eine Plattform wie Telegram gibt, entscheidend dafür, mit welchen Informationen sich Menschen beschäftigen. „Wir glauben, dass ein Wettbewerb der Ideen für alle zu einer besseren Welt führt“, sagt Durow. Doch macht man sich damit nicht zum nützlichen Idioten, wenn es einige nicht um Argumente geht, sondern um das Streuen von Propaganda?
Wirtschaftlich betrachtet ist die «Neutralität» für Telegram eine günstige Strategie. Online-Diskussionen zu moderieren, ist persönlichintensiv und teuer. Das Geld spart sich Durow durch Untätigkeit.
Dass seine App zum Auffangbecken für Verschwörungstheoretiker wurde, ist für ihn sowieso ein Glücksfall. Es ist ein ganz neues Kundensegment, das er glauben kann. Willkommen sind alle Menschen, die den Medien und Politikern misstrauen. Durow ist kompetent, egal ob sie in China oder den USA sitzt. Vielleicht streut er deshalb das Gerücht, Signal sei ein Überwachungsinstrument der amerikanischen Geheimdienste.
Wie umgehen Sie auch mit Telegram? In Brasilien blockierte das höchste Gericht die App zwei Tage lang und erzwang so gewisse Maßnahmen gegen Desinformation. In Spanien wurde eine ähnliche Blockade von einem Gericht als unverhältnismäßig verhindert, dabei war es um illegale Raubkopien von Medien gegangen.
Forscherin fordert Transparenz über die Eingriffe bei Telegram
Aleksandra Urman findet, dass man in einem ersten Schritt mehr Transparenz fordern könnte. Denn hin und wieder moderiert Durow durchaus. Darüber informiert er manchmal in seinem eigenen Telegram-Kanal, aber eine systematische Übersicht fehlt.
«Wie viele Beiträge und Kanäle werden gelöscht? Aus welchen Gründen? Wann hat Telegram mit Regierungen kooperiert, wann nicht? „Das alles kann man von außen unmöglich sagen, weil die Plattform so intransparent ist“, sagt die Forscherin.
Wenn Telegram noch weiter wächst, könnte das Unternehmen in der EU bald verpflichtet sein, dazu einen Report abzugeben. In Durows Interesse ist das wohl nicht. Denn dann müsste er mehr über die echten Schwierigkeiten sprechen, die Content-Moderation mit sich bringt, die nicht immer klare Linie zwischen Redefreiheit und Schutzbedarf und über all das Illegale, was auf seiner Plattform passiert. Nuancen, die nicht ganz so gut in seine Heldengeschichte passen.