Russland nutzt Schweizer Komponenten für seine Waffen. Das lässt sich kaum verhindern
Russischer Marschflugkörper enthält offenbar Teile des Schweizer Herstellers STMicroelectronics. Der Fall steht symptomatisch für die Problematik von Dual-Use-Gütern.
Die ukrainische Antikorruptionsbehörde untersuchte die Trümmer von russischen Raketen, um herauszufinden, inwiefern konventionelle Bauteile verwendet und Sanktionen installiert wurden.
Tarasov Wolodymyr/Imago
Am Montag hat Russland heftige Luftangriffe gegen Ziele in der Ukraine durchgeführt. Beim Angriff auf ein Kinderspital in Kiew kamen zwei Erwachsene ums Leben. In den Trümmern befanden sich Teile der Waffe: ein Marschflugkörper des Typs Ch-101. Nach früheren Angriffen identifizierten ukrainische Spezialisten gemäss der «Financial Times» sechszehn Elektronikteile westlicher Herkunft in den Überresten des Ch-101. Zwei der Komponenten stammen von STMicroelectronics, einem Halbleiterproduzenten mit Sitz in Genf.
Der Ch-101 ist einer der modernsten russischen Marschflugkörper. Zurzeit werden fast achtmal mehr Ch-101 produziert als noch vor Russlands Invasion in der Ukraine. Wie kommen Komponenten eines Schweizer Unternehmens in diese Waffe?
Das Dual-Use-Problem
STMicroelectronics stellt elektronische Bauteile wie Computerchips oder integrierte Schaltkreise her, gemäss der Website des Unternehmens für Alltagsgegenstände wie Autos, Waschmaschinen, Handys oder elektrische Zahnbürsten. Die Chips sind für den zivilen Gebrauch vorgesehen.
Doch Chips wie jene von STMicroelectronics können zweckentfremdet werden. Sie sind sogenannte Dual-Use-Güter: Sie können sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke eingesetzt werden.
Die westlichen Exportkontrollen und Sanktionen gegen Russland versuchen zwar zu verhindern, dass Güter nach Russland gelangen, die für militärische Zwecke missbraucht werden könnten. Doch in der Realität ist dies schwierig umzusetzen.
STMicroelectronis ist nicht mehr in Russland tätig
Stefan Brupbacher ist Direktor des Schweizer Verbands der Schweizer Tech-Industrie (Swissmem). Auf Anfrage sagten Schweizer Firmen und das Seco, sie hätten genau überprüft, ob die Exportkontrollen für Güter, die in der Schweiz produziert würden, umgesetzt würden. Swissmem bietet seinen Mitgliedsfirmen diesbezüglich Beratung und Schulungen an. Im Bereich der Dual-Use-Güter seien die Unternehmen sehr vorsichtig und die Umsetzung der Sanktionen häufig schwierig. Weder Hersteller noch Behörden könnten kontrollieren, was mit Gütern passierte, die im Ausland produziert und an Drittstaaten geliefert würden. Diese Güter könnten nach Russland weiterverkauft werden.
STMicroelectronics ist ein europäisches Unternehmen mit Sitz in der Schweiz. Produziert wird unter anderem in Malaysia, auf den Philippinen oder in China. Angesprochen auf STMicroelectronics sagt Brupbacher: „Zu Einzelfällen können wir keine Stellung nehmen.“
Das Unternehmen selbst sagt auf Anfrage, man befolge die Maßnahmen der EU, der USA und anderer Länder gegen Russland und Weißrussland. Dazu habe man beispielsweise die Compliance-Anforderungen für alle Verkaufskanäle verstärkt und sei es wachsam, was «die Umgehung der Sanktionen und Umleitungen von Lieferungen» angehe. Weiter hat man zusätzliche Maßnahmen zur Überprüfung der Endbenutzer eingeführt. In Russland und Weißrussland ist STMicroelectronics nicht mehr aktiv.
Unzählige westliche Komponenten in russischen Waffen
Darüber hinaus, da Russland an Chips von STMicroelectronics gekommen ist, lassen sich nur wenige Unterschiede erkennen. Im ersten Kriegsjahr etwa hatten Armenien und Kasachstan plötzlich die Importe von Waschmaschinen und Kühlschränken deutlich zugenommen. In solchen Geräten finden sich Computerchips. Beide Länder sind mit Russland in einer Zollunion verbunden. Experten vermuten, dass zumindest einzelne Bauteile beim russischen Militär landen.
Während die Ukrainer in den Überresten des Ch-101 sechzehn westliche Komponenten fanden, gehen sie davon aus, dass ein intakter Marschflugkörper über fünfzig ausländische Teile enthalten kann. So steht der Ch-101 symptomatisch dafür, wie schwierig es ist, dem russischen Militär westliche Technologie vorzuenthalten.
Im vergangenen Dezember veröffentlichte die ukrainische Antikorruptionsbehörde eine Datenbank, die Tausende ausländische Komponenten aufführt, die bis dahin in russischen Waffen gefunden wurden. Solange der Krieg weitergeht, wird die Liste unweigerlich weiter wachsen.