Taiwan beginnt, seine modernsten Computerchips auch im Ausland herzustellen. Doch damit werden seine Verbündeten im Westen nicht unabhängig. Im Gegenteil: Ihr Interesse am Frieden zwischen China und Taiwan steigt.
Der Taiwan-Konflikt ist schnell erklärt. China beanspruchte Taiwan für sich und behält sich vor, Taiwan gewaltsam zu annektieren. Die USA warnen China davor, liefern Waffen an Taiwan, lassen aber offen, ob sie Taiwan militärisch beistehen.
China und die USA sind im Konflikt die Akteure, und Taiwan ist der Spielball der Großmächte. Diese gängige Sichtweise ist in Anbetracht der militärischen Gegebenheiten legitim. Doch mit Blick auf die Wirtschaft ist sie überholt. Denn sie ignoriert einen essenziellen Umstand: Computerchips.
Computerchips, auch Halbleiter genannt, sind unerlässlich für das tägliche Leben. Sie stecken in Autos, Handys, Flugzeugen, in Tausenden von elektronischen Alltagsgegenständen. 60 Prozent aller Chips und 90 Prozent der modernsten Chips, die Technologien wie 5G oder künstliche Intelligenz ermöglichen, werden in Taiwan hergestellt. Die meisten davon stammen von der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC).
Taiwans marktbeherrschende Stellung bei der Produktion von Chips verleiht dem Inselstaat eine enorme weltwirtschaftliche Bedeutung. Und das nutzt Taiwan, um bestehende Allianzen zu vertiefen und neue zu schaffen.
Computerchips als Schutzgarantie?
Die größten Teile aus bestehenden Silizium-Computerchips schützen Taiwan wie ein Schild, so die Auffassung zahlreicher Politiker und Beobachter. China sei ebenso abhängig von taiwanischen Chips wie dem Rest der Welt. Das verhindere, dass es Taiwan angreife. Und sollte China doch angreifen, dann hofft Taiwan auf den Beistand gleichgesinnter Länder, die ebenfalls auf die taiwanischen Chips angewiesen sind. Denn sollten die TSMC-Fabriken zerstört oder von China übernommen werden, wäre der Zugang der westlichen Welt zu modernsten Computerchips nicht mehr gesichert. Auch Tsai Ing-wen, bis letzte Mai Taiwans Präsidentin, sprach schon vom Silizium-Schild.
Die kommunistische Führung in Peking betrachtete Taiwan als Teil ihres Territoriums, obwohl sie den Inselstaat nie kontrolliert hat. Peking strebt eine «Wiedervereinigung» Taiwans mit dem Festland an. Die Mehrheit der Bevölkerung Taiwans versteht sich als Taiwaner und lehnt eine Vereinigung mit dem Festland ab. Die taiwanische Regierung ist deshalb bestrebt, die gegenwärtige Situation, den Status quo, auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten.
Mit Computerchips zum Erhalt des Status quo
Taiwans Außenminister Lin Chia-lung sagte im Juli gegenüber ausländischen Journalisten, Taiwan sei bereit, Halbleiter-Know-how mit demokratischen Ländern zu teilen. Regierungsbeamte nennen die USA, Japan, Deutschland oder die Philippinen. Als „gleichgesinnte Partner“ erwähnen sie Vietnam und Thailand.
Lins Stellvertreter Tien Chung-kwang stellte den Silizium-Schild gänzlich in Abrede vor. Er sagte: „Es geht nicht um einen Siliziumschutz, sondern um einen Siliziumanteil.“ Frei übersetzt: Es geht nicht darum, die Halbleiterindustrie als Schutzschild zu nutzen, sondern sie mit Verbündeten zu teilen. Ziel, so alle Regierungsvertreter, seien „demokratische Lieferketten“.
Das ist denn auch das Hauptziel der gegenwärtigen diplomatischen Initiative, Taiwan noch stärker in globale Lieferketten einzubinden: Jedes Land, das seine wirtschaftlichen Beziehungen mit Taiwan vertieft, ist ein Verfechter des Status quo mit China, ein potenzieller Fürsprecher in internationalen Organisationen, ein möglicher Verbündeter im Krieg.
Halbleiter-Know-how für alle
Die taiwanische Regierung weiß, dass die Bedeutung von Computerchips spätestens seit den Lieferengpässen während der Corona-Pandemie allen Regierungen bewusst ist. Das macht die Computerchips zum perfekten Mittel für Taiwans diplomatische Offensive.
Vietnam, Thailand und die Philippinen sind Teil der zehn Staaten der umfassenden Assoziation Südostasiatischer Länder (ASEAN). Taiwans wirtschaftlicher Fokus liegt schon länger auf den Asean-Ländern. Die Aussicht, mit Taiwan im Bereich Computerchips enger zu kooperieren und womöglich Teil der Halbleiter-Wertschöpfungskette zu werden, dürfte bei den meisten von ihnen auf Interesse stoßen. Bis jetzt hat sich jedoch kaum eine Zusammenarbeit manifestiert.
Viel konkreter sind dagegen die Vorhaben bei Taiwans wichtigstem Verbündeten. Im US-Gliedstaat Arizona baut der Chiphersteller TSMC drei Fabriken. Das erste soll nächstes Jahr in Betrieb gehen. In Japan werden in einer neu gebauten TSMC-Fabrik noch in diesem Jahr erste Chips hergestellt, der Bau eines weiteren ist bereits beschlossen. Und ab 2027 wird TSMC in Dresden produzieren.
Gibt Taiwan seinen Vorteil freiwillig aus der Hand?
Plant TSMC Investitionen im Ausland, muss es die Pläne dem taiwanischen Wirtschaftsministerium zur Genehmigung vorlegen. Auf Anfrage schreibt das Unternehmen, dass dazu etwa Angaben zur Technologie gehören, die man im Ausland einsetzen will. Dieser Umstand macht das Projekt in den USA besonders bemerkenswert. TSMC wird in Arizona nämlich die modernsten Chips herstellen, die es gibt. Zwei der Fabriken sind für Chips vorgesehen, die erst in den nächsten Jahren in Massenproduktion gehen werden.
Taiwan gibt seine modernste Technologie im Ausland. Es scheint, als würde es sein Silizium-Schild eigenhändig demontieren. Bisher hiess es, die modernsten Chips stelle man nur auf Taiwan her.
Beim Projekt in den USA spielte sehr wahrscheinlich Druck der amerikanischen Regierung eine Rolle. Im Kriegsfall wäre Taiwan auf den Beistand der USA angewiesen, das dürfte den Entscheid der taiwanischen Regierung beeinflusst haben, TSMC den Export seiner modernsten Technologie in die USA zu erlauben.
Die Amerikaner versuchen seit Jahren, ihre Halbleiterindustrie wieder aufzubauen und Abhängigkeiten vom Ausland zu reduzieren. Gemäss der US-Handelsministerin Gina Raimondo kaufen die USA 92 Prozent ihrer modernsten Chips aus Taiwan. Generell gehen so viele der Chips von TSMC in die USA, dass amerikanische Experten des Baker Institute for Public Policy schreiben: «TSMC ist eigentlich ‹Amerikas Chipfabrik›.»
Analysten schätzen, dass, selbst wenn zwei der drei amerikanischen Fabriken und jene in Japan und Deutschland in Betrieb sind, deren Chips kaum mehr als zehn Prozent der Gesamtverkäufe von TSMC ausmachen werden. Somit bleibt Taiwan als Produktionsstandort für Halbleiter unangefochten.
Die Entscheider in Taipeh wissen das. Mit selbstbewusster Regelmässigkeit verweisen sie auf den wichtigen Bestandteil von Taiwans Erfolgsmodell. „Wir haben ein Netzwerk von eng kooperierenden Unternehmen, dieses ist schwierig zu kopieren.“ Dieses Netzwerk ist Taiwans globaler Vorteil“, heisst es etwa bei der Industrial Development Administration.
Auf Taiwan sind etwa die Wege zwischen Forschung, Entwicklung und Produktion kurz. Probleme können schnell gelöst werden. Das ermöglicht es TSMC, die Fehlerquote zu minimieren und die Gewinnmarge zu maximieren. Und sorgt dafür, dass Taiwans Erfolg mittelfristig bestehen bleibt.
Im Ausland kann TSMC lediglich versuchen, die taiwanischen Bedingungen so gut es geht zu replizieren. Wie schwierig das ist, zeigt die Tatsache, dass TSMC schon jetzt damit rechnet, dass seine Fabriken in den USA, Japan und Deutschland weniger rentabel sein werden. Diese Standorte werden auf absehbare Zeit von Expertise aus der Zentrale abhängig sein. Allen voran bei Problemen könnte es sein, dass zur Lösung extra Experten aus Taiwan eingeflogen werden müssen. Das stellt einen zusätzlichen Zeit- und Kostenfaktor dar.
Zudem ist offen, wie gut sich die rigide Arbeitskultur von TSMC, ein wichtiger Erfolgsfaktor, ausserhalb Taiwans Implementierung lässt. TSMC schickt ausländische Arbeitnehmer zuweilen zum Psychologen, bevor diese die Stelle antreten. So sollen die Fachkräfte auf die hohe Arbeitsbelastung bei TSMC vorbereitet werden.
Eigeninteresse ist die beste Motivation
Die taiwanische Regierung weiß um seinen Vorsprung bei Computerchips gegenüber dem Rest der Welt. Sie wissen darum, dass Taiwans Erfolg, sein Halbleiternetzwerk und der hohe Optimierungsgrad bei TSMC kaum einfach exportiert oder kopiert werden können. Sie wissen, um die Bestrebungen westlicher Länder, Abhängigkeiten bei Halbleitern zu reduzieren. Und sie weiß, dass zahlreiche Schwellenländer Teil der Halbleiter-Wertschöpfungskette werden wollen.
Denn was Taiwan im Gegenzug erhält, ist für das Land mindestens so wichtig wie die Computerchips für seinen Partner: Diese unterstützen Taiwan dabei, China von einem Krieg abzuhalten.
Allen voran den USA, Japan und Deutschland sollte bewusst sein, dass der Zugang zu Computerchips trotz TSMC-Fabriken im eigenen Land vollständig davon abhängt, dass der Status quo weiter besteht. Die Politiker dieser Länder mögen glauben, dadurch unabhängiger zu werden. Doch in Wahrheit werden sie durch Taiwans Technologieexport noch enger an die Insel gebunden. Und das wird die taiwanische Regierung, speziell mit Blick auf die USA. Bereits zu Beginn der taiwanischen Halbleiterindustrie bestand die Auffassung: Je enger die wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA, desto sicherer sei Taiwan.
Das gilt nach wie vor und ist im Einklang mit Taiwans Technologieexport. Denn schließlich ist es egal, wie eine chinesische Annexion Taiwans geschähe. Ob mit oder ohne Gewalt, die Chipindustrie bräche zusammen. Entweder würde sie im Krieg zerstört. Oder sie würde von China kontrolliert, was einen Exodus von taiwanischem Know-how und einen Lieferstopp von westlichen Ersatzteilen und Rohstoffen zur Folge hätte. Die Werke in den USA, Japan und Deutschland wären ohne das Hauptquartier kaum überlebensfähig.
So bleibt Taiwans Verbündeter nur übrig, Taiwans Ziele zu ihren eigenen zu machen: Der Status quo soll gewahrt und eine Annexion verhindert werden. Jedes Land, das von Taiwans Technologie unterstützt oder davon abhängt, hat ein ureigenes Interesse daran, dass, wie es der taiwanische Außenminister Lin beschreibt, Xi Jinping jeden Tag aufwacht und denkt: „Heute ist nicht der Tag, um Taiwan anzugreifen.“
Taiwans Halbleiterindustrie macht das Land vom Spielball der Großmächte zum Akteur, der sein Schicksal beeinflussen kann.
Der Artikel ist im Rahmen einer vom taiwanischen Außenministerium organisierten Pressereise entstanden.