Begegnung mit einem Schüler, der sich Goethes «Faust» komplett von Chat-GPT erläutern liess – und an der Abschlussprüfung die Bestnote erzielte.
Luc Amrein kennt sich aus mit künstlicher Intelligenz (KI). Die wichtigsten Regeln im Umgang mit Programmen wie Chat-GPT haben der Maturand eines Zürcher Gymnasiums längst verinnerlicht: Sag der Maschine genau, was sie zu tun hat. Und dass sie Materialien zuverlässig verwenden sollen – damit sie kein Quatsch erzählt.
So kann man beim Lernen viel Zeit sparen. Und erst noch gute Noten erzielen.
Luc, der eigentlich anders heisst, war jedenfalls sehr erfolgreich damit. Der junge Mann hat sich schnell ausschliesslich mit KI auf seine mündliche Deutsch-Matur vorbereitet. Er sagt: „Ich habe keines meiner Bücher gelesen. Das hat alles die KI für mich gemacht. Ich habe trotzdem eine Sechs bekommen.»
Es klingt sehr selbstbewusst, wie selbstverständlich.
KI braucht menschliche Intelligenz
Wir treffen Luc in einer Videokonferenz. Er soll uns zeigen, wie er das damals gemacht hat, vor seiner mündlichen Prüfung im vergangenen Jahr, ganz ohne Bücher zu lesen. Es ist eine interessante Begegnung, denn schnell wird klar: Luc ist kein Denkfehler Schüler, der möglichst viel möglichst schnell an eine KI auslagern will, um sich irgendwie durch die Prüfung zu mogeln.
Im Gegenteil, der Maturand macht sich viele Gedanken.
Ein Beispiel: Luc Weiss, was eine vertrauenswürdige Quelle ist. Das klingt unspektakulär, ist aber eine wesentliche Voraussetzung für einen gekonnten Umgang mit KI. Denn damit hat der 20-Jährige auch verstanden, wie man Chat-GPT dazu bringen kann, beim Originaltext zu bleiben und verlässliches literarisches Wissen wiederzugeben, wenn man den Schreib-Bot zu Büchern befragt: Man löst ein Abo der Bezahlversion GPT-4 (für rund 20 Franken im Monat), damit man PDF-Dokumente hochladen und dem Bot mitteilen kann, dass seine Ausführungen auf diesen Texten basieren sollen – und nicht auf irgendwelchen Fragmenten, die er normalerweise aus dem Internet zusammenfassen würde.
Verlässliche Quellentexte sind wichtig. Luc sagt: «Sonst halluziniert er vor sich hin.» Halluzinieren bedeutet: Der Schreib-Bot verliert sich in Scheinargumenten, die zwar gut klingen, sich aber bei genauerem Hinsehen als phantasierter Quatsch erweisen – hingeschrieben von einer Maschine, die nicht denken, sondern die menschliche Sprache lediglich imitieren kann.
Um das so weit wie möglich zu verhindern, hat Luc seinem virtuellen Gesprächspartner für jedes Buch auf seiner «Leseliste» jeweils mehrere Texte verfüttert: das Original und mehrere Sekundärtexte. Bei «Faust I» von Goethe – mit diesem Drama wurde er tatsächlich geprüft – hat er zum Beispiel die Schülerausgabe «Lektüreschlüssel XL» des Reclam-Verlags hochgeladen.
Chat-GPT stellt schwierige Fragen
Dann kommt bei Luc erneut die menschliche Komponente ins Spiel. Er macht sich Gedanken, bevor er mit Chat-GPT hin und her schreibt. Er sagt: „Man muss im Unterricht zuhören und ein Gespür dafür entwickeln, was geprüft werden könnte.“ Ausserdem seien die 15 Minuten bei der Mündlichen schnell vorbei. Da könnte man nicht grob überlegen sein. Die Antworten müssten wie aus der Pistole geschossen kommen. Einfach formuliert, aufs Wesentliche reduziert. «Daher sollte man sich vor allem breites Wissen aneignen.»
Luc hat sich bei GPT-4 für jedes seiner Bücher eigene Chat-Bots angelegt. Dabei handelt es sich um einen Art Sparringpartner, mit dem er diese Werke Schritt für Schritt durchgearbeitet hat. Schnell wie mit einem Nachhilfelehrer. Um ein solches Pingpong in Gang zu bringen, sollten Rolle, Kontext, Aufgabe des Chat-Bots, Ziel der Übung und Etappen dahingehend klar benannt werden.
Gefragt sind präzise Aufträge, sogenannte Prompts, ungefähr so:
Dann könnten Schüler und Bot loslegen, Schritt für Schritt, etwa so:
Es klingt verführerisch einfach. Und sehr effizient.
Für seine Faust-Prompts hat Luc ungefähr eine halbe Stunde gebraucht. „Mein Lernaufwand für die Mündliche war lächerlich gering“, sagt er. Zwei Tage für neun Bücher. Höchstens. Dabei ist ein solcher Chat über Faust kein leichtes Unterfangen. Der Bot stellt schwierige Fragen. Zum Beispiel folgendes:
Aber das bringt Maturanden wie Luc nicht aus der Ruhe. Er schätzt den Dialog mit der Maschine. Und die Textausschnitte, über die der Mann an der Mündlichen sprechen muss und die er als Nichtleser eigentlich gar nicht kennen kann? Einfach – bei „Faust I“ könnte man davon ausgehen, dass man eine der Schlüsselszenen des Stücks vorgelegt bekommt. „Und die sollte man kennen“, sagt Luc. Aber das gehe auch mit einer guten Zusammenfassung.
Und, wichtiger: „Die meisten Schüler wissen nicht, wie man lernt.“ Sie merken sich viel zu viele Details.» Ein bekanntes Problem. Und an der Mündlichen sind manche dieser Leseratten dann so klug wie zuvor – weil sie vor lauter Weltliteratur den Blick fürs große Ganze verloren haben.
Luc ist überzeugt: Mit einem interaktiven Training mit Chat-GPT dringt man viel schneller zu den wesentlichen Punkten vor, als wenn man sich Goethes 4612 Verse zuerst im Original antun würde. Verknüpfungen anstellen; Meta-Themen erkennen; das Prüfungsgespräch dahin lenken, wo man sich sicher fühlt; zeigen, dass man die Botschaft des Autors verstanden habe – das sei viel wichtiger als Einzelheiten dieser oder jener Szene in «Faust I».
Und überhaupt: Vom Prinzip her sei das nichts Neues. Mit Zusammenfassungen und etwas Sekundärliteratur sei man schon früher durchgekommen. KI habe diese Mentalität lediglich verstärkt. Eine explizite Verpflichtung, die Werke auf der Liste der Mündlichen tatsächlich zu lesen, gibt es an seiner Schule nicht. Luc sagt: „Die Lehrer gehen davon aus, dass man für eine gute Note die Bücher gelesen haben muss.“ Doch dem ist nicht so.»
Wozu die Mühe, wenn man auch ohne brillieren kann?
«Lieber so auch mit Wikipedia»
Man notiert es sich und ist etwas ratlos. Soll man empört sein ob so viel Zweckdenken, ob der Geringschätzung dem wohl wichtigsten Text der deutschen Literatur gegenüber? Oder KI-Cracks wie Luc für ihre Chuzpe bewundern? War man bei der eigenen Mündlichen damals nicht auch froh um Hilfsmittel wie «Kindlers Neues Literatur-Lexikon», die einem den Allerwertesten gerettet haben – an der Universität, wohlgemerkt?
Jürg Widrig, Deutschlehrer an der Kantonsschule Romanshorn und KI-Experte am Digital Learning Hub in Zürich, sagt: «Mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn meine Maturandinnen und Maturanden ihre Bücher nicht gelesen haben.» Solange sie einem Bot nicht blind vertrauten, sondern kritisch blieben und der Maschine genau sagte, was sie zu tun habe und dass sie dafür seriöse Quellen nutzen solle, sei das okay. «Lieber so auch mit Wikipedia.»
Widrig ist entwaffnend ehrlich: «Die Aufgabe an der Maturaprüfung besteht weniger darin, den Primärtext gelesen zu haben – man muss ihn vor allem verstanden haben.» Der Deutschlehrer ist allerdings skeptisch, ob die Poker-Strategie von Schülern wie Luc bei der Textanalyse immer aufgehen kann. Das sei ähnlich wie in Gesprächen im Unterricht: «Man merkt, ob die Jugendlichen einen Text gelesen haben oder nicht.» Mit KI zu lernen, sei jedoch legitim.
Das sehen nicht alle so. Ein anderer Deutschlehrer aus dem Kanton Zürich findet es traurig, dass manche Maturanden lieber mit Zusammenfassungen und Chat-Bots arbeiten als mit den Büchern auf ihrer Leseliste – und an der Prüfung erst noch kompetent wirken. „Ich bin bestimmt auch schon darauf gefallen“, sagt der Mann.
Der arme Tor
Luc kann damit wenig anfangen. Für ihn steht fest: Schüler sind kreativ. Sie werden immer einen Weg finden, um mit minimalem Aufwand einen maximalen Ertrag zu erzielen. Auch wenn sie damit nur bedingt glücklich werden. Der 20-Jährige hat sich auch in den anderen Fächern mit KI auf die Mündliche vorbereitet. Seine schlechteste Note war eine Fünf.
Luc sagt: „Das war okay, aber irgendwie auch komisch.“ Früher habe man viel leisten müssen für eine gute Matur. Allerdings habe ich viel weniger gemacht als andere Schüler seiner Klasse – und er war trotzdem besser als sie. «Eigentlich ist das beängstigend.»
Der sonst so selbstbewusste, rhetorisch gewandte junge Mann wird plötzlich nachdenklich im Gespräch. Dann sagt er: „Ich hatte kein Erfolgsgefühl, als ich mein Zeugnis in den Händen hielt.“ Ein wenig sei er sich wie ein Hochstapler vorgekommen.
Und ja, das Lesen geht verloren, wenn man es so macht wie er. «Das ist schon ein bisschen beschissen.»
KI bei der Maturarbeit: was Schulen, Lehrer und Schülerinnen tun sollen
R. Sc. · Sollen Maturandinnen und Maturandinnen KI bei ihren schriftlichen Abschlussarbeiten benutzen dürfen? Der Digital Learning Hub des Kantons Zürich findet: ja. In einem Leitfaden über Matur- und Projektarbeiten von Anfang April schreibt das Netzwerk für digitalisierten Unterricht: „Ein Verbot generativer KI-Systeme ist weder praktikabel noch zielführend.“ Das Dokument empfiehlt den Zürcher Mittelschulen unter anderem:
- Die hauseigenen Richtlinien sollen den neuen Möglichkeiten von KI angepasst werden.
- Lehrer sollen ihre Schüler coachen und sie dazu bringen, in einem Arbeitsjournal über ihr Projekt zu reflektieren – auch über den Einsatz und die Grenzen von KI.
- Die Verwendung von KI-Programmen soll bekanntermaßen erfolgen und auch in der Eigenständigkeitserklärung erwähnt werden.
- Sprachliche Korrektheit und Stil der Arbeit sollen höher gewichtet werden, da Hilfsprogramme wie DeepL Write Texte effizient verbessern können.
- Lehrer und Maturandinnen sollen dazu befähigt werden, mit diesen Hilfsmitteln zu arbeiten.
- Schüler sollen ihre schriftliche Abschlussarbeit nur kurz präsentieren, damit genug Zeit für ein Prüfungsgespräch bleibt – um herauszufinden, ob sie ihr Thema wirklich verstanden haben.
In einem weiteren Dokument des Netzwerks finden sich auch Tipps für Schülerinnen und Schüler. Dort erfährt man, dass KI nicht nur bei Themenfindung, Recherche und Gliederung helfen kann, sondern auch beim Schreiben. Und wie man Chat-GPT und andere KI-Programme um Unterstützung fragen kann. Zum Beispiel so: «Könntest du mir einige Tipps geben, wie ich diesen Abschnitt effektiv schreiben kann?»
Das Problem: Chat-GPT könnte den Abschnitt auch selbst schreiben. DeepL Write könnte ihn verbessern. Humanizer-Programme wie Undetectable AI könnten ihm die maschinelle Note nehmen.
Für schreibfaule Maturanden eine verlockende Perspektive.