Wie gefährlich ist Tiktok wirklich? Eine Rekonstruktion
Sie werden angeblich nur unterhalten. Nun steht Tiktok in den USA kurz vor einem Verbot. Vom Aufstieg der mächtigsten App der Welt.
Shou Zi Chew schaut in die Augen eines Mannes, der ihn verhört wie einen Schwerverbrecher. Es ist Ende Januar dieses Jahres, wir befinden uns in einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress. Die Stimmung ist gereizt. Der Mann, der ihn verhört, stellt zwar Fragen, doch die Antworten will er nicht hören. Seine Meinung ist schon gemacht.
Parlamentarier: Welcher Nation gehören Sie an?
Kauen: Singapur.
Parlamentarier: Sind Sie ein Bürger eines anderen Staates?
Kauen: Nein.
Parlamentarier: Haben Sie sich jemals für eine andere Staatsbürgerschaft beworben?
Kauen: Nein.
Parlamentarier: Haben Sie einen singapurischen Pass?
Kauen: Ja, ich habe sogar in der singapurischen Armee geredet.
Parlamentarier: Waren Sie jemals Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas?
Kauen (lacht ungläubig): Senator, nein. Ich bin Singapurer.
Shou Zi Chew ist kein Schwerverbrecher. Er ist CEO der mächtigsten App der Welt: Tiktok. Entwickelt im unfreien China, freigegeben für die freie Welt. Eigentlich geht es in der Anhörung um die Sicherheit von Kindern auf sozialen Netzwerken. Dennoch dreht sich alles nur um eine Frage: Ist Chews Firma eine chinesische Propagandawaffe? Eine Software, die Demokratien mit Desinformation und Hetze zu Fall bringen will?
Die feindselige Anhörung vor dem amerikanischen Kongress ist Zeichen für das tiefe Misstrauen des Westens gegenüber dieser App, die weltweit 1,5 Milliarden Menschen in ihren Bann zieht – und jeder einzelne von ihnen durchschnittlich für eineinhalb Stunden ans Smartphone fesselt, pro Tag. Das schafft kein anderes soziales Netzwerk.
Doch je beliebter Tiktok wird, desto stärker wächst das Unbehagen. Politiker befürchten, China nutze die Plattform als Propagandawaffe. Um ihre Bürger auszuhorchen, sie mit Fake News in die Irre zu führen und damit die Demokratie zu destabilisieren. Auch zahlreiche Experten warnen deshalb vor Tiktok.
Diese Diskussionen sieht man gerade auch in den USA. Die Politik hat dem Unternehmen ein Ultimatum gestellt: Entweder ihr verkauft den amerikanischen Teil der Videoplattform an amerikanische Eigentümer – oder wir verbieten sie. So lautet das Gesetz, das am Mittwoch vom Repräsentantenhaus mit einer großen Mehrheit angenommen wurde. Rutscht es ähnlich leicht durch den Senat, könnte Tiktok in den USA in einem halben Jahr verboten sein.
Bereits jetzt haben Indien und Nepal Tiktok aus ihrem Land verbannt, aus Sicherheitsgründen. Und in Kanada, Österreich, Frankreich, in den Niederlanden und den USA dürfen Regierungsmitarbeiter die App nicht auf ihren Diensthandys installieren, ebenso wenig die Angestellten der EU-Kommission und jene des EU-Parlaments.
Innerhalb weniger Jahre ist damit aus einer scheinbar harmlosen Unterhaltungs-App mit kurzen, belanglosen Tanzvideos ein Spielball der Geopolitik geworden.
Wie konnte das passieren?
Aufstieg einer App, die süchtig macht
Alles beginnt 2012 mit einem unscheinbaren Mann in Peking. Dieser Mann heisst Zhang Yiming. Er ist 29 Jahre alt und macht gerade den ersten Schritt, um zum großen Rivalen der westlichen Übermacht im Silicon Valley zu werden.
Zhang ist Softwareingenieur und liest täglich die News. Doch er findet es furchtbar, dass er erst durch Dutzende Medienportale scrollen muss, um an interessante Inhalte zu kommen. Zhang will eine App, die ihm diese Arbeit annimmt. Eine App, die ihm jeden Morgen eine Auswahl von Artikeln präsentiert, für ihn persönlich zusammengestellt. Da es einen solchen Empfehlungsalgorithmus noch nicht gibt, hat er ihn selbst entwickelt.
Aus dem Empfehlungsalgorithmus wird ein Programm, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Es lernt mit jedem Klick, mit jedem Scrollen, mit jedem Innehalten auf einem Beitrag – und gibt den Nutzerinnen und Nutzern damit mehr von dem, was sie wollen. Und zwar sofort.
Genau damit wird Tiktok seine Nutzer später so süchtig machen.
Zhang nennt seine News-App Toutiao „Schlagzeilen“. Sie wird ein Großerfolg sein. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung, 2013, erreicht das Startup in China 10 Millionen Nutzer und wächst stetig weiter. Doch Zhang wird mehr. Er wird ein Unterhaltungsimperium schaffen, einen chinesischen Konzern, so groß wie Google oder Meta. Zhang nennt seine Firma Bytedance – das spätere Mutterunternehmen von Tiktok.
Während seine News-App ständig wächst, merkt der Unternehmer, dass ein Format immer beliebter wird: Kurzvideos. Zhang beschloss im Frühjahr 2016, ein Portal für kurze Filmchen zu entwickeln. Aber nicht irgendeins. Zhang wird es besser machen als alle anderen. Er lässt 100 solcher Portale aus der ganzen Welt analysieren.
Schnell sieht man, dass die meisten davon in der Bedienung zu kompliziert sind. Manche sparen bei der Rechenleistung und sind langsam, andere unterstützen nur Videos in schlechterer Qualität. Und das Schlimmste: Viele davon sind nicht auf das Smartphone zugeschnitten.
Mit diesem Wissen gründet Zhang Douyin, ein Kurzvideoportal. Der Name ist eine Kombination der Wörter „dou“ (vibrieren) und „yin“ (Ton). Das Logo ist eine Musiknote, die zu vibrieren scheint.
Douyin soll ein Selbstläufer werden, genau wie Toutiao. Doch nach der Veröffentlichung kommt die große Ernüchterung. Der Erfolg bleibt aus. Zhang schaltet teure Werbekampagnen, bezahlt Stars von anderen sozialen Netzwerken dafür, dass sie Videos von sich auf Douyin posten. Und er lädt einflussreiche chinesische Influencer in sein Büro ein, die ihm helfen, die App noch besser zu machen. Das funktioniert.
Die Plattform wird in China beliebter. Plötzlich tauchen Influencerinnen mit Schminktipps auf, Magier, die Zaubertricks vorführen, oder Köchinnen mit Ratschlägen für das perfekte Menü. Und dann folgt das, wovon alle sozialen Netzwerke träumen: Trends, die nur auf der eigenen App zu sehen sind. Sogenannte Challenges, Herausforderungen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass es eine App geschafft hat, cool zu werden.
Plötzlich fordern sich verboten Tausende Nutzerinnen und Nutzer heraus, in der Dusche zum gleichen Lied zu tanzen – selbstverständlich voll bekleidet, denn nebst vielem anderen ist die Darstellung von Nacktheit in China.
Doch Zhang wird bald klar, dass er früher oder später wegen seiner Videoplattform Ärger bekommen wird. Wer in China ein digitales Netzwerk betreibt, ist den Zensurregeln unterworfen: keine gleichgeschlechtliche Liebe, kein Feminismus, keine Kritik an der Führung der Kommunistischen Partei.
Für Douyin wird es immer schwierig, die Zensur zu gewährleisten. Denn täglich laden Nutzer Tausende von Videos hoch. Nicht jedes davon können die Content-Moderatoren, auch Kontrolleure für unangemessene Inhalte, vor der Veröffentlichung prüfen. Das ist auch dem Gründer Zhang Yiming bewusst. Und er weiß, dass seine Plattform woanders besser wachsen könnte als in seinem Heimatland.
Es ist 2016, und der Unternehmer entscheidet sich, Douyin der chinesischen Zensur zu unterwerfen. Für den Rest der Welt schafft er eine zweite App: Tiktok, die unartige Zwillingsschwester von Douyin. Sie soll eine Plattform für die Außenwelt sein, eine, auf der das möglich sein kann, was in China verboten ist. Es ist also nur logisch, dass Tiktok in China bis heute gesperrt ist.
Technisch unterscheiden sich Douyin und Tiktok jedoch kaum. Die beiden Apps verwenden fast den gleichen Programmcode, den gleichen Empfehlungsalgorithmus, das gleiche Logo: die vibrierende Musiknote. Auch das chinesische Entwicklungsteam, das neue Funktionen in die Apps einfügt, ist dasselbe. Dies nährt das Unbehagen gegenüber der App und liefert Munition für Tiktok-Kritiker.
Für Zhang sind die vielen Synergien aber gut fürs Geschäft. Sein Tech-Unternehmen Bytedance mit Hauptsitz in Peking ist nun eines der schnellstwachsenden Firmen weltweit. Tiktok wird in Süd- und Südostasien immer beliebter. Doch dem erfolgreichen Unternehmer fehlt etwas: eine breite Nutzerbasis in den lukrativen Märkten Europas und der USA.
Der Kauf
Es ist 2018, und Zhang entscheidet sich für den Schnellzug Richtung Erfolg – mit der Übernahme einer bereits erfolgreichen App: Musical.ly. Die Anwendung macht im Grunde dasselbe wie Tiktok: Sie ist ein Videoportal, das bei Teenagern und jungen Erwachsenen beliebt ist. Musical.ly wurde ebenfalls von einem Chinesen gegründet und hat bereits 200 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, viele von ihnen im Westen.
Bytedance zahlt 800 Millionen Dollar für die Fusion. Damit hat Tiktok auf einen Schlag 280 Millionen Nutzerinnen und Nutzer weltweit. Rund die Hälfte von ihnen stammt aus reichen westlichen Ländern.
Während Zhang Yiming im Ausland damit einen großen Erfolg feiern kann, gerät er zu Hause in China massiv unter Druck – und zwar wegen seines immer mächtiger werdenden Konzerns Bytedance. Er spürt das, was anderen Tech-Unternehmern vor ihm bereits widerfahren ist: die harte Hand der Kommunistischen Partei.
Das hat vor allem mit dem Partei- und Staatschef Xi Jinping zu tun. Als 2013 die Macht kam, endete für Chinas Privatwirtschaft eine wilde, mehrheitlich unregulierte Zeit. Sie wurde von zunehmender staatlicher Kontrolle abgelöst.
Xi hatte es vor allem auf den Technologiesektor abgesehen. Auf die ganz großen, ganz mächtigen Konzerne – so wie Alibaba, den Onlinehändler. Der Alibaba-Gründer Jack Ma hatte 2020 die Regulierungsbehörden öffentlich kritisiert. Daraufhin verschwand er monatelang aus der Öffentlichkeit. Sein Tech-Imperium wurde in sechs Teilen zerschlagen und verlor massiv an Marktanteilen.
So etwas blüht auch Zhan Yiming. Im Jahr seiner Fusion mit Musical.ly wird ihm in China eine andere Plattform zum Verhängen. Sie heisst Neihan Duanzi – zu Deutsch: zweideutiger Sketch.
Neihan Duanzi, eine der ersten Apps von Bytedance, ist eine Ansammlung von lustigen Illustrationen, Comedy-Videos, aber auch von einem oder anderen Witz unter der Gürtellinie. Innerhalb von sechs Jahren ist sie auf etwa 30 Millionen Nutzerinnen und Nutzer angewachsen. Alle schätzen den Humor hier, und sie vernetzen sich auch im echten Leben, organisieren Veranstaltungen, erfinden ein Art Erkennungszeichen, indem sie am Rotlicht einmal lange und zweimal kurz hupen.
Das passt der autokratischen Regierung nicht. Zu viel der Bürgerorganisation. Die Partei befürchtet, der Humor könnte politisch werden. Sie zwingt Zhang dazu, die Plattform zu schließen – offiziell wegen vulgärer Inhalte. Die Regierung zensiert sogar das Lied „On Earth“, ein inoffizieller Markensong der Plattform. Auch das Hupzeichen an den Rotlichtern verbietet sie.
Nach dem Aus von Neihan Duanzi 2018 veröffentlichte Zhang im April 2018 eine öffentliche Entschuldigung. Er habe «versagt», schreibt er, er sei «voller Reue und Schuld» und könne nicht mehr schlafen, weil sich die Inhalte auf seiner App «nicht mit den sozialistischen Werten vertragen» hätten.
Die App habe zu wenig «positive Energie» verbreitet. „Positive Energie“, das ist in China eine beschönigende Umschreibung für Inhalte, die Partei und Regierung in einem guten Licht darstellen. Auch Propaganda.
Zhangs Verhalten ist typisch. Er lebt in einem Land, in dem der politische Wind von einem auf den anderen Tag drehen kann. In einem Land, in dem weltbekannte Unternehmer wie Jack Ma verschwinden können. Wenn er nicht mit der Regierung kooperiert, werden er und seine Firma Bytedance vom übermächtigen Staat marginalisiert. Dem wird Zhang zuvorkommen.
Zhangs Kniefall hinterlässt auch bei der chinesischen Zwillingsschwester von Tiktok Spuren. Auf Douyin gibt es seither eine Rubrik mit dem Titel „Positive Energie“. Zu sehen sind Lobeshymnen auf die Regierung und Videos zur Schönheit Chinas.
Der ahnungslose Westen
Von alldem bekommt man im Westen aber nichts mit. Auch der Zusammenschluss von Tiktok mit Musica.ly wirft keine hohen Wellen. Im Silicon Valley, dem bislang unangefochtenesten n Nabel der Tech-Welt, ist die Übernahme nur eine Randnotiz.
Kenner der Branche halten Tiktok für eine von vielen Apps aus China, die eben mal etwas Erfolg haben. Auf einer Teenie-Plattform sehen die meisten keine ernstzunehmende Konkurrenz.
Was für eine Fehleinschätzung.
Einer, der früh erkennt, was da herannaht, ist der westliche Gegenspieler von Zhang Yiming: der Facebook-CEO Mark Zuckerberg. Bereits Ende 2018 lanciert er die Video-App Lasso. Sie kopierten das Konzept von Tiktok. Es ist der erste Versuch, der chinesischen Plattform einen Klon aus dem Silicon Valley entgegenzusetzen – und er scheitert kläglich.
Denn Zhang ist auf den Angriff vorbereitet. Mit einer raffinierten Finte stellt er sich dem Kampf gegen Instagram, Facebook und Twitter. Er lässt zu, was die anderen verbieten: dass Nutzerinnen und Nutzer Videos von Tiktok herunterladen und auf anderen Plattformen posten können.
Damit verbreiten sich die aufregendsten Tiktok-Videos auf Facebook, Instagram und Twitter, immer versehen mit einem Wasserzeichen, der mittlerweile weltberühmten Musiknote.
Das Logo zeigt allen: Seht her, die coolsten, spannendsten und aufregendsten Dinge geschehen woanders. Auf Tiktok.
— ♡YORCH GLOBAL FANBASE♡ (@YorchGlobal) 26. Januar 2024
Das Markenzeichen der App sind die ultrakurzen Videos von rund 15 Sekunden. Sie passen ausgezeichnet in eine Welt, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird.
Wer sich eine halbe Stunde durch die Plattform scrollt, sieht rund 120 verschiedene Videos. Im Schnitt ist das rund vierzig Mal so viel wie auf Youtube. Hier beträgt die durchschnittliche Länge eines Videos 11 Minuten.
Genau diese Geschwindigkeit macht den Tiktok-Algorithmus so überlegen. Weil die App in viel kürzerer Zeit viel mehr Videos abspielt, lernt sie schneller als ihre Konkurrenten, was den Nutzern wirklich gefällt. Die Plattform wirkt attraktiver, verführerischer.
Der Tiktok-Code
Doch auch für die Hersteller der Videos ist Tiktok verlockend. Sie brauchen nicht wie auf anderen Plattformen erst Tausende von Followern, damit ihre Inhalte zu Hits werden. Sie können bereits mit dem ersten Video viral gehen und damit über Nacht zu Tiktok-Stars werden.
Der Tiktok-Code funktioniert so: Nachdem ein Nutzer ein Video geteilt hat, spielt es die App auf den Handys von etwa zehn fremden Nutzern ab. Wenn ihnen das Video gefällt, sie es auch anschauen, liken, kommentieren und weiterverbreiten, dann stuft der Algorithmus den Inhalt als besser ein. Er verteilte ihn an hundert Leute, dann an tausend. Stösst das Video bei ihnen ebenfalls auf Anklang, kann es sich weiter hochschaukeln – bis zu einem Megahype.
Das ist auch Oluyomi Scherrer passiert. Der Schweizer Koch ist Mitte zwanzig und verbreitet unter dem Namen „Thispronto“ Rezeptvideos von Fast Food. Sein Markenzeichen: Er nutzt ein Apple-Tablet als Schneidebrett.
Scherrer motzt Burger mit noch mehr Käse auf oder Süßigkeiten mit noch mehr Schokolade. Am Schluss seiner Videos nimmt er jeweils einen genussvollen Bissen vom heiß dampfenden Snack. Es sind Filmchen von ein paar Sekunden. Doch Scherrer erreicht damit ein riesiges Publikum. Sein Account zählt zur Zeit rund 16 Millionen Follower, fast doppelt so viele, wie die Schweiz Einwohner hat.
Mit Tiktok ist es ein wenig wie mit Scherrers Fast Food. Nach jedem Video will man mehr, noch einen Bissen, immer weiter. Jedes Filmchen gibt uns einen neuen Dopamin-Kick, eine weitere kleine Belohnung. Umso schwierig wird es, die App zu schließen und das Telefon beiseitezulegen.
Tiktok macht nicht satt.
Das ist der Kern des Geschäftsmodells von sozialen Netzwerken. Jede Minute, die wir auf ihren Plattformen verbringen, zieht Werbekunden an. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Konkurrenz den Tiktok-Sog kopieren will.
Im Sommer 2020 führt Instagram Reels ein, eine Plattform für Kurzvideos. Der Gigant Youtube muss ebenfalls auf den Rausch der kurzen Clips reagieren und setzt auf sogenannte Shorts. Das mag einige von der Abwanderung abhalten, doch es führt nicht dazu, dass die Jungen zurückkehren. Sie bleiben auf Tiktok.
Damit ist der Gegenangriff der Tech-Giganten aus den USA zumindest teilweise gescheitert. Denn Tiktoks Einfluss wächst weiter. Auch bei über 25-Jährigen. Sie nutzen die App längst nicht mehr nur zur Unterhaltung. Bereits 2020 sagte jeder fünfte Nutzer, er informiere sich auf der Plattform über aktuelle Ereignisse. Drei Jahre später, 2023, hat sich dieser Anteil verdoppelt. Das gilt sowohl für Deutschland als auch für die USA.
Insgesamt nutzen heute 1,6 Milliarden Menschen die Plattform. In Deutschland und in der Schweiz ist jeder Vierte im Tiktok-Bann.
Kein Ende in Sicht: Seit seiner Gründung wächst Tiktok Jahr um Jahr
Anzahl Tiktok-Nutzer, die mindestens einmal im Monat auf die App zugreifen, pro Quartal, in Millionen
Tiktok tickt anders
Zum ersten Mal hat es eine chinesische App geschafft, tief in den Alltag der Menschen auf der ganzen Welt vorzudringen. Mit dem Boom von Tiktok gehört eine alte Überzeugung: dass chinesische Unternehmen nur schlechte Kopien von westlichen Innovationen herstellen.
Heute ist es genau umgekehrt. Westliche Software-Unternehmen haben das kopiert, was diese Plattform aus China erfolgreich gemacht hat.
Doch Tiktok tickt anders. Das merken einige Nutzerinnen und Nutzer bereits 2019. So auch die 17-jährige Feroza Aziz.
Die Schülerin aus New Jersey veröffentlicht im November 2019 ein Video, bei dem es vordergründig darum geht, wie man eine Wimpernzange benutzt. Mittendrin antwortete ihr abrupt auf das Thema und kritisierte: „Was in China passiert, wie sie Konzentrationslager schaffen und unschuldige Muslime darin einsperren“. Aziz nimmt damit Bezug auf die Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen Region Xinjiang.
Das Video wird 5 Millionen Mal angeklickt. Tiktoks Reaktion wird bezeichnet: Als sogenannte Content-Moderatoren Aziz‘ Tarnung entlarven, löschen sie das Video und blockieren ihr Profil.
Der Fall zeigt, dass es die chinesische Regierung geschafft hat, ihre roten Linien auch außerhalb ihrer Landesgrenzen durchzusetzen.
So wie Feroza Aziz geht es vielen Nutzerinnen und Nutzern. Ihnen fällt zunehmend auf, dass bestimmte politische Themen, die in China heikel sind, auf Tiktok kaum Publikum finden. Dazu gehören das Tiananmen-Massaker von 1989 in Peking, die Debatte über eine Unabhängigkeit Taiwans, der Tibet-Konflikt. Die User fragen sich: Entscheidet die chinesische Partei auch bei uns, was wir sehen und was nicht?
Tiktok reagiert auf die Zensurvorwürfe mit der Flucht nach vorne. Das Unternehmen bestreitet sämtliche Vorwürfe und gründet lokale Teams in zahlreichen Ländern. Sie sollen bestimmen, was auf der Plattform veröffentlicht werden darf. Das USA-Team etwa rühmt sich, besonders viel Meinungsfreiheit zuzulassen – und das, obwohl es unter anderem Feroza Aziz‘ Video gelöscht hat.
Die Indien
In den folgenden Jahren bestätigen sich die Zensurvorwürfe immer wieder, zuletzt in einer Analyse der Rutgers-Universität in den USA. Forschende untersuchten im Herbst 2023, wie sich Hashtag-Kampagnen auf Tiktok verbreiten, und verglichen diese mit Instagram.
Anfangs überprüften sie Hashtags zur Pop-Kultur und fanden keine Unterschiede. Beiträge mit den Schlagwörtern #TaylorSwift und #ChristianoRonaldo kommen auf Tiktok und Instagram ungefähr gleich oft vor.
Ganz anders sieht es bei Inhalten aus, die chinakritisch sind. Beiträge mit den Hashtags #Uyghur, #Tibet, #DalaiLama, #HongKongProtest oder #Tiananmensquare sind auf Tiktok massiv unterrepräsentiert.
Die Forschenden kamen daher in ihrem Bericht zu folgendem Fazit: „Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass Inhalte auf Tiktok entweder verstärkt oder unterdrückt werden – je nachdem, ob sie den Interessen der chinesischen Regierung entsprechen.“
Tiktok selbst reagierte empört. Die Firma bemängelte die Studie der Rutgers-Universität als «fehlerhaft» und erklärte, mit Hashtag-Analysen liessen sich keine korrekten Aussagen über die Inhalte auf der Plattform treffen. Allerdings hatte das Unternehmen kurz davor exakt dieselbe Methode für eine eigene Analyse eingesetzt.
Kurze Zeit später nahm Tiktok das Datentool offline, mit dem die Forschenden der Rutgers-Studie ihre Hashtag-Analyse erstellt hatten. Damit verschwand das einzige öffentliche Werkzeug zur Auswertung von Inhalten auf der Plattform.
Frühere Recherchen kamen bereits zu ähnlichen Ergebnissen. Journalisten des Portals „Netzpolitik“ fanden heraus, dass Begriffe wie „Arbeitslager“, „Umerziehungslager“ oder „Konzentrationslager“ in der automatischen Untertitelung von Videos mit Zensursternchen versehen wurden. Aus dem Wort „Arbeitslager“ wurde „arbeits************“, aus „Internierungslager“ wurde „internierungs************“. Auch hier reagierte Tiktok umgangen auf die Kritik – und sagte, man habe fälschlicherweise veraltete «Sprachschutzmassnahmen» angewendet.
Brisant sind solche «Fehler» vor allem bei Themen, die gerade hochpolitisch sind und unter Umständen Wahlen beeinflussen können. Die Rutgers-Studie legte etwa nahe, dass der Hashtag #StandWithUkraine auf Tiktok unterdrückt wird. Dasselbe gilt für den Hashtag #StandWithIsrael.
Die Beispiele zeigen, dass die Kommunistische Partei Chinas und die Entscheidungsträger bei Tiktok offensichtlich deckungsgleiche Haltungen vertreten. Allerdings gibt es bis heute keinen stichhaltigen Beweis dafür, dass die chinesische Regierung tatsächlich aktiv bei der Plattform mitmischt. Doch die Indien mehren sich. Davon gehen auch die US-Geheimdienste aus.
Die Angst vor Tiktok
Wie wichtig Tiktok für China selbst geworden ist, zeigt die Reaktion der Regierung, als der damalige amerikanische Präsident Donald Trump bereits im Sommer 2020 ein Verbot der App oder einen Verkauf an amerikanische Investoren forderte.
Als sich hochrangige Käufer wie Oracle und Walmart meldeten, intervenierte die chinesische Regierung. Sie verbietet den Verkauf von Algorithmen und anderen KI-gestützten Technologien. Das heißt: Tiktok darf nicht in ausländische Hände fallen.
Dass China lieber ein Verbot der App in den USA riskiert, als die Plattform ins Ausland zu verkaufen, wirft Fragen auf. Offenbar ist Tiktok zu wichtig für die Regierung – und das, obwohl es im eigenen Land auf der schwarzen Liste steht.
Was aber die Angst vor der chinesischen Beeinflussung am meisten nährt, ist das Mutterunternehmen von Tiktok, Bytedance. Es operiert im chinesischen Umfeld und ist damit dem chinesischen Gesetz unterstellt.
Dort muss jede Einzelperson oder Firma, egal ob privat oder staatlich, mit der Kommunistischen Partei kooperieren – zum Zweck der Staatssicherheit. Der chinesische Nachrichtendienst könnte von Tiktok verlangen, Nutzerdaten preiszugeben. Die staatliche Propaganda-Abteilung könnte versuchen, zu beeinflussen, welche Inhalte auf Tiktok verbreitet werden und wie die einzelnen Themen gewichtet werden.
In jeder größeren Firma in China sitzen Parteizellen. Das sind Mitglieder der Kommunistischen Partei, die bei vielen Entscheidenden mitreden. Bei persönlichen Fragen, bei Geschäftsmodellen oder bei der Wahl eines geeigneten Standorts. Oftmals haben sie fachlich keine Ahnung. Ihre Aufgabe ist es, das Unternehmen im Sinne des chinesischen Staates zu beeinflussen.
Das ist auch bei Bytedance der Fall. Und es kommt sogar noch etwas dazu. 2021 hat die Partei sogenannte goldene Aktien einer wichtigen chinesischen Unternehmenseinheit von Bytedance gekauft. Damit erhielten Mitglieder Einsitz in den Vorstand der Partei.
Hinzu kommt, dass laut einer Linkedin-Analyse von «Forbes» bei Bytedance Hunderte Angestellte arbeiten, die einst in staatlich kontrollierten Medien tätig waren und damit Hand in Hand mit den Zensurbehörden kollaborierten. Gemß der Recherche erhielten einige von ihnen sogar gleichzeitig die Norm von Staat und Bytedance.
Doch nicht nur bei Bytedance mehren sich die Indien. Auch Tiktok selbst ist in kleineren Skandalen verwickelt. So musste sich die Firma etwa nach einer Recherche der britischen Zeitung „The Guardian“ Ende 2022 entschuldigen. Mindestens vier Tiktok-Angestellte hatten erfolglos versucht, mit der App zwei Journalistinnen auszuspionieren.
Sie wollten dabei die Handys orten, mit denen d Das heißt, Journalistinnen nutzen Tiktok. Sie wollten sehen, ob sie sich mit anderen Mitarbeitenden getroffen hatten, von denen man befürchtete, dass sie Tiktok-interne Dokumente der Öffentlichkeit zuspielen wollten.
Zurzeit ist Tiktok vor allem wegen sogenannter Fake News in den Schlagzeilen. Laut Experten eignet sich die App besonders gut für irreführende Kampagnen. So entlarvte etwa die BBC ein Netzwerk aus gefälschten Konten, das massenhaft Videos postete, um den früheren ukrainischen Verteidigungsminister Olexi Resnikow zu Fall zu bringen.
Resnikow war eine Schlüsselfigur in den ukrainischen Bemühungen, westliche Militärhilfe zu beschaffen. Die Kampagnen zielen darauf ab, die Integrität der ukrainischen Elite im europäischen Ausland in Frage zu stellen. Resnikow musste im September 2023 auf öffentlichen Druck zurücktreten.
Jüngst zeigte sich schließlich, wie populistische und extremistische Akteure versuchen, sich den Tiktok-Algorithmus zunutze zu machen. Zu ihnen gehört etwa Martin Sellner, das Aushängeschild der Identitären Bewegung. Oder Exponenten der rechtsextremen Jungen Tat. Akteure wie sie veröffentlichen erst harmlosere Videos, um möglichst viele Follower zu erhalten. Dann folgen Sie immer extremistischeren Inhalten.
Dieses Prinzip beherrscht etwa die AfD in Deutschland hervorragend. Laut einer aktuellen Studie erreicht ein Video der rechtspopulistischen Partei auf Tiktok etwa 400 000 Menschen. Bei anderen deutschen Parteien sind es hingegen nur maximal 80 000 Menschen. Damit erfährt die AfD nicht zuletzt durch Tiktok gerade einen großen Zuwachs von sehr jungen Sympathisanten.
Was sagt Bytedance zu all diesen Vorwürfen?
Eine Medienanfrage lässt das Unternehmen unbeantwortet. Dafür reagiert Tiktok. Gleich zwei Kommunikationsexperten kommen für ein Hintergrundgespräch in die NZZ-Redaktion nach Zürich. Einer von ihnen ist Tim Klaws. Er ist Leiter der Government-Relations-Abteilung von Tiktok im deutschsprachigen Raum und damit ein Art Chef-Lobbyist des Unternehmens in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Klaws ist in Eile, er war gerade beim Schweizer Fernsehen wegen einer Dokumentation zum Thema. Nun sitzt er hier und sagt: alles falsch. Man gewähre keinen Zugriff der Regierung auf Nutzerdaten. Genauso wenig konnte China Einfluss auf die Inhalte der App nehmen. Denn Tiktok sei gar kein chinesisches Unternehmen. Es habe zwei Firmensitze, in Los Angeles und in Singapur – auch außerhalb von Chinas Einflussbereich.
Klaws sagt: „Die Tiktok-Nutzerdaten werden in Datenzentren außerhalb Chinas gespeichert.“ Was aber ist mit Bytedance, dem chinesischen Mutterunternehmen von Tiktok? Das seien zwei völlig unterschiedliche Firmen, suggerieren Mediensprecher immer wieder.
Wirklich? Eine strikte Trennung der beiden Firmen scheint unplausibel. Man denke sich, Mark Zuckerberg würde plötzlich behaupten, Instagram und Meta seien zwei völlig unabhängige Unternehmen.
Klaws versuchte, die Zweifel gegenüber Tiktok mit einem Projekt namens Clover zu beseitigen. Dahinter verbirgt sich der Plan, sämtliche Daten von europäischen Nutzern auf Servern in Europa zu speichern. Tiktok baue dafür eigene Datenzentren, sagt Klaws. Zwei in Irland und eins in Norwegen. „Das sind Investitionen von 12 Milliarden Euro.“
Ein externes Sicherheitsunternehmen, die NCC Group, überwacht außerdem, ob wirklich keine Nutzerdaten nach China fließen. Klaws sagt: „Wenn Sie Tiktok selbst nicht glauben, dann glauben Sie vielleicht einem externen Sicherheitsunternehmen.“
Wie unabhängig die NCC Group ist, lässt sich nicht überprüfen. Die Firma hat eine Medienanfrage zum Thema unbeantwortet gelassen.
China-Kenner zweifelt an der Argumentation von Tiktok. Einer von ihnen ist Kai von Carnap. Der unabhängige Experte für chinesische Technologiefirmen weist auf die enge strategische Zusammenarbeit von Bytedance und Tiktok hin. Er sagt: „Die Steuerung von Tiktok liegt bei Bytedance. Und Bytedance ist an Peking gebunden.»
Für ihn ist deshalb klar: „In den entscheidenden Momenten ist die Kommunistische Partei Chinas die Entscheidungsträgerin bei Bytedance.“
Das Unbehagen bleibt
Desinformationskampagnen, radikale Videos und die Unterdrückung von chinakritischen Inhalten: Es sind viele Indizien, die da zusammengekommen sind. Zu viele für die USA. Nur so ist zu erklären, wie zwei völlig zerstrittene Parteien wie die Republikaner und die Demokraten geeint gegen Tiktok vorgehen.
Das war bereits vor zwei Monaten abzusehen. Damals, als der Tiktok-CEO Shou Zi Chew im amerikanischen Kongress Platz nehmen musste. Das Verhör geht weiter.
Parlamentarier: Sie waren der CFO von Bytedance?
Kauen: Ja.
Parlamentarier: Wo haben Sie damals gelebt?
Kauen: In China fünf Jahre lang.
Parlamentarier: Joe Biden sagte, Xi Jinping sei ein Diktator. Sind Sie damit einverstanden?
Kauen: Ich werde keinen Kommentar zu irgendwelchen Machthabern abgeben.
Parlamentarier: Haben Sie Angst, dass Sie Ihren Job verlieren würden? Dass Sie verhaftet und verschwinden würden, wenn Sie das nächste Mal nach China gehen?
Kauen (schüttelt resigniert den Kopf): Sir . . .
Die Frage, wie viel China in Tiktok steckt, wird Shou Zi Chew nie loslassen. Und alle anderen auch nicht.