«Kein Problem, lass uns das zusammen durchgehen»: Zürcher Schüler üben mit einem Bot für die Gymiprüfung
Die Lernplattform Go Gymi wird teuren Privatkursen Konkurrenz machen. Das Tool verfügt über einen Mathe-Nachhilfelehrer und einen automatisierten Coach fürs Aufsatzschreiben. Ein Schulbesuch in Schwamendingen zeigt, wie’s geht.
Illustration Simon Tanner / NZZ
Ein Freitagmorgen im November, 7 Uhr 30. Vier Kinder der sechsten Primarklasse des Schulhauses Auzelg in Zürich Schwamendingen klappen ihre Tablets auf: Gymivorbereitung, wie jeden Freitag seit den Herbstferien. Im Frühling wollen die vier die Aufnahmeprüfung fürs Langzeitgymnasium probieren.
Heute ist Rechnen mit Proportionalitäten dran. Die Lehrerin Sarina Heinzer hatte den vier Kandidaten über das Computerprogramm Teams eine Aufgabe gestellt. Jetzt will Heinzer von ihnen wissen: «Konntet ihr die Aufgabe lösen?» Der 11-jährige Henok schüttelt den Kopf. Er hat den Text durchgelesen, aber nicht verstanden. Die Aufgabe hat es in sich. Bis spät am Abend hätten ihr die Schülerinnen und Schüler dazu geschickt Fragen gestellt, sagt Heinzer. Für die Kinder ist das Thema komplett neu, aber bei der Gymiprüfung im März muss es sitzen.
Ob ihnen Go Gymi dabei helfen kann?
Die Lernplattform, die Henok, Juliana, Leoni und Leonit auf ihren Tablets installiert haben, soll Primarschüler und -lehrer bei der Gymiprüfungsvorbereitung gleichermassen unterstützen. Sie ist mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattet.
Zunächst eine Textaufgabe: ohne Bot am Bildschirm
Die Idee dahinter: Die Kinder sollen selbständig arbeiten können am Bildschirm. Die Schüler von Sarina Heinzer lesen Erklärungen nach, schauen Videos dazu und üben Aufgaben im Quizformat. Und sie können ihr Wissen mit Aufgaben testen, die auch an der Gymiprüfung vorkommen können.
Heinzer sagt: „Es ist sehr viel Stoff.“ Sie haben deshalb einen Zeitplan für die Kinder erstellt. Die Plattform zeigt ihr den Fortschritt an, den ihre Schüler erzielen. Grüne und rote Balken signalisieren, wo die Kinder bei den einzelnen Modulen stehen, welche Aufgaben sie lösen konnten und welche Schwierigkeiten waren.
Doch zunächst geht es um etwas anderes: offline, frontal, wie im traditionellen Unterricht. Heinzer und die vier Prüfungskandidaten nehmen sich eine Textaufgabe vor:
Drei Röhren führen zu einem Schwimmbecken. Die erste Röhre allein würde das Becken in 12 Stunden, die zweite in 10 Stunden und die dritte in 8 Stunden füllen. Um 6 Uhr wird begonnen, das Becken mit allen drei Röhren zu füllen. Wenn nach 2 Stunden die erste und nach 3 Stunden die zweite Röhre ausfällt, um wie viel Uhr ist dann das Becken gefüllt?
Die Lehrerin geht die Aufgabe gemeinsam mit den Kindern durch, Satz für Satz. So viel Zeit bleibt an der Gymiprüfung nicht. „Das Rechnen an sich klappe gut“, sagt Heinzer. Die Textaufgabe auch sprachlich zu verstehen, das sei jedoch für viele eine große Herausforderung. In Schwamendingen beträgt der Ausländeranteil 44,8 Prozent. Viele Kinder haben Eltern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
„Ah!“ – Der KI-Nachhilfelehrer hilft weiter
Diese Schwierigkeiten zeigen sich, sobald die Kinder allein am Tablet weiterlernen. Henok liegt eine weitere Textaufgabe vor, ist aber erst einmal überfordert. Dann klickt er auf den Button „Gib mir einen Tipp“. Ein Chat-Fenster taucht auf. Prompt erscheint eine Antwort: „Kein Problem, lass uns das zusammen durchgehen“, schreibt der „KI-Nachhilfelehrer“ zurück. Der Chatbot umschreibt die Aufgabe und gibt den ersten Rechenschritt vor.
„Ah!“, sagt Henok kurz darauf und beginnt, Zahlen in ein Heft zu schreiben.
Juliana sagt, sie lerne gern am Computer, weil sie so mehr Zeit zum Nachdenken habe und die Aufgaben besser verstehe. Leoni ergänzt: «Wenn etwas unklar ist, kann man einfach den ‹Nachhilfelehrer› fragen.» Der sei cool, denn er zeigt Schritt für Schritt, was zu tun sei – wie die echte Lehrerin. „So stehe sie auch beim Üben zu Hause nie an“, sagt Leoni. Bis zu drei Stunden in der Woche übe sie außerhalb der Schulzeit.
Sarina Heinzer sagt: „Es braucht tatsächlich Übung, um die neuen Aufgaben zu erlernen.“ Sonst wird es schwierig an der Gymiprüfung.»
Die Texte auf der Plattform sind in kinderfreundlicher Sprache geschrieben. Da steht zum Beispiel: «Lasst uns in die faszinierende Welt der Mathematik eintauchen und gemeinsam die Geheimnisse lüften. Bereit? Dann auf ins Abenteuer!» Leonit sagt, das fiele ihm besonders: „Die Aufgaben motivieren mich, weil sie lustig sind geschrieben.“
Konkurrenz für Privatkurse?
Letztes Jahr haben 4567 Sechstklässler die Aufnahmeprüfung für das Langzeitgymnasium im Kanton Zürich abgelegt. Die Hälfte der Jugendlichen hat bestanden. Der Zürcher Weg ins Gymnasium gilt als besonders anspruchsvoll.
Viele Eltern entscheiden sich für einen kostenpflichtigen Privatkurs neben oder statt der Übungslektionen an der Schule. Ein solches Training kostet bis zu 3000 Franken. Das ist viel Geld. „Das schafft ein großes Gefälle zwischen Kindern, die Eltern haben, die sich einen Privatkurs leisten können, und ganz einfach, die diese Möglichkeit nicht haben“, sagt Jan Bühlmann, der Mitgründer von Go Gymi.
Jan Bühlmann, Mitgründer der Lern-App Go Gymi.
PD
Bühlmann war früher Nachhilfelehrer. Aufgewachsen ist er in Küsnacht, einer reichen Gemeinde mit vielen wohlhabenden Familien. Seine Lernplattform ist jedoch im Moment vor allem in Gemeinden und Quartieren vertreten mit weniger privilegierten Schulkindern als an der Goldküste: in Wallisellen, Schlieren und Schwamendingen beispielsweise.
Dort wohnen viele Kinder, deren Eltern keinen akademischen Hintergrund haben und ihnen daher nicht bei der Vorbereitung auf die Gymiprüfung helfen können. Bühlmann sagt: „Es haben nicht alle die gleichen Chancen.“
Hier will Go Gymi Gegensteuer geben, zumindest ein bisschen. Seit September wird die Lernplattform im Rahmen eines Pilotprojekts der Stadt Zürich mit 130 Primar- und Sekundarschülern in öffentlichen Schulen getestet. Es gibt auch ein Angebot für Eltern, die mit ihren Kindern üben wollen. Das sogenannte All-in-one-Paket fürs Langzeitgymnasium kostet derzeit 60 Franken pro Monat. „Unser Ziel ist es, die führende Lern-App für die Gymivorbereitung im Kanton Zürich zu werden“, sagt Bühlmann.
Für Lehrerinnen und Lehrer sei die Plattform eine Entlastung. «Die Lernmaterialien sind pfannenfertig aufbereitet.» Auf die Aufsatz-Feedback-Funktion ist Bühlmann besonders stolz: Damit werden Schülertexte in vier Minuten von einer KI korrigiert – eine Aufgabe, die für Lehrer sonst einen Mehraufwand bedeuten, den sie am Abend oder an den Wochenenden leisten müssen.
Aufsatz üben mit dem Feedback-Bot
Theoretisch geht das so: Die Prüfungskandidaten schreiben ihre Probeaufsätze von Hand. Dann werden die Texte eingescannt oder abfotografiert und auf die Plattform hochgeladen. Dort wird die Handschrift automatisch in einen digitalen Text übertragen, damit der Feedback-Bot damit arbeiten kann.
Das Tool muss genau wissen, wie die Aufgabenstellung lautet. Ein Beispiel: «Der Aufsatz soll in der Ich-Perspektive und in der Vergangenheit geschrieben sein, er soll ein lustiges Ereignis beinhalten und soll sich um ein Restaurant drehen.» Das müssen die Schüler selbst eingeben.
Die künstliche Intelligenz korrigiert sodann nicht nur Grammatik und Rechtschreibung, sondern auch Inhalt, Struktur und Stil. Fehlende Satzzeichen, falsch geschriebene Wörter und zu lange Sätze werden farbig markiert. Dann begründete der Bot den Text etwa so: „Der Einstieg ist gut gelungen, da er den Leser direkt in das Geschehen im Restaurant einführt und eine hektische Atmosphäre schafft.“ Er macht aber auch Verbesserungsvorschläge: «Die Geschichte ist nicht in der Vergangenheit geschrieben und könnte von einer klareren Struktur profitieren.» Und er stellt den Schülern eine überarbeitete Version zur Verfügung.
Die Macher von Go Gymi sind überzeugt: Der automatisierte Aufsatz-Coach ist fair, neutral, unvoreingenommen.
Die Primarlehrerin Geraldine Truyol sieht das etwas anders. Sie haben die Lernplattform mit ihren Gymikandidaten in Egg ausprobiert. Das Aufsatz-Tool von Go Gymi gebe etwas gar positives Feedback, sagt Truyol. Da sei sie als Lehrerin kritischer. Auch der «KI-Nachhilfelehrer» habe seine Tücken. Ab und zu gebe der Bot fehlerhafte Antworten zu Fragen bei Mathe-Aufgaben.
Sie haben ihren Schülern erklärt, was künstliche Intelligenz sei – und dass deren Aussagen nicht immer der Wahrheit entsprächen, sagt Truyol. „So denken die Kinder mit und hinterfragen das, was ihnen die KI am Bildschirm zurückschreibt.“
Auch Sarina Heinzer weist ihre Schüler immer wieder darauf hin, dass sie nicht alles am Tablet machen können. Die Gymiprüfung im März wird immer noch von Hand geschrieben. Daher müssen Henok, Juliana, Leoni und Leonit jede Aufgabe, jeden Rechenschritt zuerst von Hand skizzieren – auch wenn die Lösung dann mit einem Klick überprüft werden kann.
Die Hauptsache aber sei, und das sagt die Lehrerin den vier Kindern immer wieder in der Vorbereitungslektion: „Üben, dranbleiben, weiter üben.“ Egal ob auf einem Tablet oder auf Papier.