Netzaktivisten stellen Alterskontrollen im Internet bisher als unverhältnismässig starken Einschnitt in die Privatsphäre dar. Ein französischer Professor zeigt: Es ginge auch anders. Doch die Politik hört nicht hin.
Was der da wohl machte? Ein Junge an einem Laptop.
Andreas Reeg / Visum
„Wissen das eure Eltern?“, fragt der Sexualpädagoge Bruno Wermuth eine Gruppe 12-jähriger Knaben, als sie ihm beipflichten, sie würden ab und zu pornografische Videos aufrufen. „Bist du wahnsinnig?“, berichtet einer der Jungen. «Die meinen, wir schauen noch Pingu!»
Das Internet hat den Zugang zu Sexfilmen kinderleicht gemacht. Dies kritisieren Politikerinnen und Politiker aus der EU und der Schweiz bereits seit Jahren. Zwar gibt es auf großen Plattformen wie Pornhub oder Stripchat inzwischen Warnhinweise und Alterskontrollen, doch diese können mit einem einzelnen Fingertipp weggeklickt werden.
Laut jüngsten Veröffentlichungen hat eines von fünf Kindern unter 14 Jahren bereits Sexvideos aufgerufen. In der Schweiz ist es zwar verboten, Kindern unter 16 Jahren Pornografie zugänglich zu machen. In dieser Altersgruppe geben aber 44 Prozent der Jugendlichen an, bereits pornografische Videos gesehen zu haben. In Deutschland liegt die Altersgrenze bei 18 Jahren. Bis zur Volljährigkeit hat eine deutliche Mehrheit der Jugendlichen bereits Pornografie konsumiert.
Nun macht die Europäische Union Druck: Sie hat die Seiten Pornhub, XVideos und Stripchat als „sehr große Plattformen“ eingestuft und damit einer strengeren Regulierung unterworfen. Das bedeutet: Die Firmen müssen nun ein glaubwürdiges System zur Alterskontrolle einführen, sonst drohen saftige Busse.
Auch die Schweiz hat ein neues Gesetz zum Jugendschutz erlassen. Nachdem das Referendum dagegen gescheitert ist, tritt das Gesetz Anfang 2025 in Kraft. Damit ist es auch in der Schweiz nur noch eine Frage der Zeit, bis Alterskontrollen im Internet eingeführt werden.
Kinderschutz ginge auch ohne zusätzliche Überwachung
Privatsphäre-Experten und Netzaktivisten sind skeptisch. Sie befürchten, dass Internetnutzer künftig noch mehr Daten von sich preisgeben müssen, als sie das heute schon tun. „Systeme zur Altersverifizierung sind Systeme zur Überwachung“, schreibt beispielsweise die Electronic Frontier Foundation.
Tatsächlich sind bisherige Formen der Alterskontrolle wie das Hochladen des Ausweises oder der Kreditkarte schlecht vereinbar mit dem Gedanken, dass die Anonymität im Internet so weit wie möglich aufrechterhalten werden soll. Deshalb geht es nun um die Suche nach einem besseren System los, um Kinder vor Pornografie abzuschirmen, ohne gleichzeitig die Freiheit im Internet abzuschaffen.
Eine Idee dafür hatte Olivier Blazy. Der Professor für Cybersicherheit an der Pariser Universität École Polytechnique hat ein System entwickelt, mit dem sich die Volljährigkeit nachweisen lässt, ohne dass ein Nutzer seine Identität preisgibt. Es funktioniert so:
Damit kommunizieren die Pornografie-Webseite und der zentrale Akteur nie direkt miteinander. Die Verbindung läuft immer über den Nutzer (Bob). Da die Anfrage keinerlei Hinweis darauf enthält, wer sie ausstellt, führt der zentrale Akteur nicht, ob Bob gerade eine Pornografie-Webseite oder ein Online-Casino aufruft, sich bei einem sozialen Netzwerk mit Altersgrenzen anmeldet oder im Internet Alkohol einkauft.
Als zentraler Akteur eignet sich idealerweise eine Organisation, die außerdem schon Informationen über den Benutzer gespeichert hat, beispielsweise seine Bank oder sein Telecom-Dienstleister.
Technisches Hintergrundwissen:
Netzaktivisten äussern sich im Grundsatz zustimmend
Bei Netzaktivisten kommt das Konzept gut an – auch bei solchen, die sich bisher kritisch über Alterskontrollen im Internet geäussert haben. „Dies scheint in die richtige Richtung zu gehen“, schreibt Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft, auf Anfrage, auch wenn er vor Schwierigkeiten bei der Implementierung warnt. Auch Angela Müller, Geschäftsleiterin von Algorithm Watch Schweiz, findet Blazys Idee «vielversprechend».
Eine technische Schwachstelle sieht Wouter Lueks, Forscher zu Privatsphäre und Cybersicherheit am Cispa Helmholtz-Zentrum für Informationssicherheit in Saarbrücken, der das System für die NZZ auf seine Sicherheit analysiert hat. „Das System ist darauf angelegt, dass die Webseite – also zum Beispiel Pornhub – und die Zentrale – also zum Beispiel die Bank – nicht miteinander kooperieren. „Legen Sie die Autoren Ihrer Daten zusammen, könnten Sie über einen kryptografischen Link herausfinden, welche Person auf welche Webseite geklickt hat“, sagt Lueks.
Ein solches Szenario ergibt sich auch, falls eine oder beide Parteien gehackt würden und die Zugriffsdaten dadurch im Darknet landen. Dennoch findet Lüks die Idee im Grundsatz interessant, da sie unverhältnismässige Eingriffe in die Privatsphäre vermeidet.
Blazy fehlt der Business-Case
Dass Blazys System aber tatsächlich eingeführt würde, schätzt Lüks als eher unwahrscheinlich ein. „Bei technischen Lösungen, die die Privatsphäre schützen, fehlt oft ein tragfähiges Geschäftsmodell – und der politische Wille, es durchzusetzen.“ Lüks spricht aus eigener Erfahrung, war doch Teil des Teams, das in den Niederlanden eine Privatsphäre schützende E-ID einführen wollte. Auch dieses Projekt blieb bisher im Prototyp-Modus stecken.
Tatsächlich gibt es keine naheliegende Form, wie Blazy mit seinem System Geld verdienen könnte. Blazy bestätigte außerdem selbst, dass es bisher dem politischen Willen fehlte, das System als Standard einzuführen. Und obwohl Blazy in Frankreich lebt und arbeitet, tritt die Regel für die Altersverifizierung bei Pornografie-Webseiten noch diesen Monat in Kraft.
Blazy weibelt trotzdem für seine Idee, spricht darüber mit internationalen Medien, stellte sie der EU-Kommission vor und der Erga, der Vereinigung der europäischen Regulatoren für audiovisuelle Mediendienste. Damit sich ein solches System durchsetzen könnte, müsste eine Regierungsstelle – zum Beispiel die EU-Kommission – bereit sein, es als einheitlichen Standard für die Altersverifizierung einzufordern.
Doch noch deutet nichts darauf hin, dass europäische Regulatoren dazu bereit wären. Damit bleiben Pornografiewebseiten mindestens vorerst auch für Kinder erreichbar.
Je jünger der Konsument, desto grösser die Überforderung
Der Sexualpädagoge Wermuth wird das nicht dramatisieren. „In der Jugend verändert sich die Sexualität vom kindlichen Erforschen des eigenen Körpers hin zur Sexualität von Erwachsenen.“ Viele Teenager suchen heutzutage Informationen über Sex, und manche sind auch neugierig auf Pornografie. Das entspricht ihrer normalen psychosozialen Entwicklung“, sagt Wermuth, der auch als Paar- und Sexualtherapeut arbeitet.
Weiter sagt er, die Teenager würden die Rollenbilder in Pornos reflektieren und wässrig werden, dass sich Film und Realität oft erheblich unterscheiden.
Andere Fachleute sehen das zwar anders als Wermuth und warnen ausdrücklich davor, dass sich der Konsum von Pornografie im zarten Alter negativ auf die Entwicklung von Teenagern auswirken könnte. Ein Konsens besteht aber unter Fachleuten: Je jünger der Konsument, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er den Reiz von Pornografie noch nicht angemessen verarbeiten kann. Und: Pornografie, bei der Menschen körperlich oder psychisch verletzt oder erniedrigt werden, hat schädliche Folgen.
Deshalb befürwortet Wermuth auch Alterskontrollen im Internet, sofern sie die Privatsphäre der Jugendlichen schützen. Gleichzeitig warnt er vor dem Irrglauben, das Problem nur mit Technik lösen zu können. Denn selbst wenn den Jungen der Zugang zu den grössten Pornoseiten künftig verwehrt bleibt, werden sie nach wie vor Sexvideos gezeigt bekommen, vielleicht von älteren Freunden, vielleicht von kleinen Webseiten, die unter dem Radar der Behörden laufen, vielleicht sogar von Bekannten, die solches Material selbstverwirklichung.
„Wichtiger, als Jugendliche von sexuellen Darstellungen im Internet abzuschirmen, wäre es, mit ihnen über ihre Fragen und Unsicherheiten zu reden“, sagt Wermuth. Er plädiert deshalb für eine bessere Sexualaufklärung und weniger Tabus im Schulzimmer und am Familientisch.