Seit drei Monaten dürfen Robotaxis in San Francisco Passagiere befördern. Nach einem Unfall kämpfen die Anbieter nun um das Vertrauen der Öffentlichkeit
Wegen der Reaktion auf einen schweren Unfall steht vor allem die Firma Cruise unter Druck. Problematisch ist, dass die Robotaxi-Anbieter ihre Daten nur begrenzt mit Behörden und Bürgern teilen.
„Die Gesellschaft braucht Zeit, um sich an neue Dinge zu gewöhnen.“ Das sagte Kyle Vogt, Gründer und CEO des Robotaxi-Unternehmens Cruise, Ende September im Rahmen einer Konferenz in San Francisco.
Einen Monat zuvor hatte sein Unternehmen, gemeinsam mit dem Konkurrenten Waymo, die Erlaubnis erhalten, in San Francisco rund um die Uhr Taxidienste in fahrerlosen Autos anzubieten. Bei Auftritten und in Interviews strich Vogt stets hervor, wie sicher die Technologie im Vergleich zu herkömmlichen Autos sei. Dank ihr konnte man tödliche Verkehrsunfälle deutlich reduzieren.
Trotz den Worten seines CEO war Cruise, das dem Autobauer General Motors gehört, gerade im Begriff, sein Angebot aggressiv aufzubauen. Man wolle in absehbarer Zukunft weiterhin «jährlich um das Zehnfache wachsen», sagte Vogt in einem Podcast am 6. Oktober. Neben San Francisco war Cruise zu dem Zeitpunkt in kleinerem Rahmen auch in Austin und Phoenix tätig, und es gab Pläne, nach Nashville und Seattle zu expandieren.
Inzwischen ist klar, dass das Wachstum auf Kosten der Sicherheit stattfand. Wenige Tage vor dem Podcast-Auftritt, am 2. Oktober, kam es in San Francisco zu einem Unfall, der die Zukunft von Cruise in Frage stellt – und Auswirkungen auf die gesamte Branche hat. „Cruise hat immer wieder öffentlich gesagt, dass seine Fahrzeuge sicher seien“, sagt Phil Koopman, Professor und Experte für autonomes Fahren an der Carnegie Mellon University, im Gespräch mit der NZZ. „Nun hat sich gezeigt, dass das nicht stimmt.“
Ein schwerer Unfall bringt Cruise zum Stillstand
Beim Unfall wurde eine Frau auf einer Kreuzung von einem Auto getroffen und in den Pfad eines fahrerlosen Cruise-Fahrzeugs geschleudert. Die Frau geriet unter das Fahrzeug, das zunächst gestoppt, dann aber ein Manöver ausführte, um die Straße freizumachen – ein vorprogrammiertes Verhalten bei einem Zusammenstoß. Dabei wurde die Frau sechs Meter mitgeschleift, was schwere Verletzungen verursachte.
Zwei Wochen später beschuldigte die kalifornische Verkehrsbehörde DMV (Department of Motor Vehicles) Cruise, das Video des Manövers nicht mit Ermittlern geteilt zu haben, und entzog dem Unternehmen die Zulassung. Cruise bestreitet die Darstellung des DMV und gibt an, das Video den Behörden am Tag nach dem Unfall gezeigt zu haben.
Zwei Tage später kündigte Cruise dann an, den Betrieb in ganz Amerika einzustellen. Man wird die Zeit nutzen, um die Prozesse, Systeme und Instrumente zu überprüfen, teilt das Unternehmen mit. Das Fehlverhalten nach dem beschriebenen Unfall wird Cruise inzwischen über ein Software-Update behoben haben.
Es ist ironisch, dass ausgerechnet das Fehlverhalten eines Autofahrers – der Fahrerflucht beging und bisher nicht festgenommen wurde – zum Stopp des Cruise-Betriebs führte. Dabei hatten sich die fahrerlosen Fahrzeuge insgesamt gut in San Francisco eingefügt.
Die Technologie funktioniert (bis anhin) gut
Der rot-weiße Chevrolet Bolt von Cruise oder der komplett in Weiß gehaltene Jaguar I-Pace von Waymo, das dem Google-Konzern Alphabet gehört, bewegen sich im Stadtverkehr weitgehend normal, wie die NZZ vor Ort beobachten konnte. Halten Sie Stoppschilder und Fußgängerstreifen bereit, setzen Sie den Blinker und kennen Sie auch das Konzept des Reissverschlusses. Doch ist der Fahrstil von Cruise – vor dem Stopp – generell etwas ruppiger als jener von Waymo.
Laut Koopman ist es für ein abschliessendes Urteil zur Sicherheit autonomer Fahrzeuge generell noch zu früh. „Gerade mit Blick auf Todesfälle braucht es noch viel mehr Daten“, sagt er. Die Autos von Cruise und Waymo haben bisher je rund 8 Millionen Kilometer zurückgelegt. Für verlässliche Aussagen brauch es laut Koopman 20 Mal so viele Kilometer. «Gegenwärtig laufen sie einen Marathon und sagen schon nach 2 Kilometern, dass ihre Zeit super sei. Dabei liegen 40 Kilometer erst noch vor ihnen.»
Zum Verhängnis wurden Cruise vor allem der Umgang mit Zwischenfällen und die geringe Transparenz zum Betrieb der autonomen Fahrzeuge. Das fängt im Straßenverkehr an: Als Fußgänger braucht es blindes Vertrauen in die Technologie, wenn man vor einem Auto ohne Fahrer die Straße überquert. Es fehlt die Person hinter dem Steuer, bei der man mit Blickkontakt oder Handzeichen abschätzen kann, ob man gesehen wird. Diese Sicherheit fehlt bei Autos ohne Fahrer.
Dieses Problem betrifft auch den Konkurrenten Waymo. Doch anders als Cruise verfügen die Fahrzeuge der Google-Schwester über eine Anzeige auf dem Dach, die mit Symbolen etwa signalisiert, wenn sie anhalten, um eine Person aussteigen zu lassen. In der Praxis erweisen sich die Signale jedoch als zu wenig prägnant.
Neben dem Fahrstil und der Signalisierung unterscheiden sich die beiden Anbieter auch bei der Kommunikation mit dem Fahrgast im Innern der Robotaxis. Während bei Cruise lediglich eine Karte, auf der die Route aus der Vogelperspektive von A nach B sichtbar ist, eingeblendet wird, gibt es bei Waymo eine Ansicht der Umgebung des Fahrzeuges. Darauf werden die Autos, die Velofahrer und die Fußgänger angezeigt, die das System über seine Sensoren sieht. Gleichzeitig wird signalisiert, warum das Fahrzeug gerade hält, sei es ein Rotlicht oder weil die Kreuzung noch blockiert ist. Das hilft den Passagieren, Vertrauen in die Technologie des autonomen Fahrens aufzubauen.
Fehlende Transparenz hat Vertrauen zerstört
Durch den Entzug der Zulassung für Cruise wurde dieses Vertrauen erschüttert, auch weil weitere heikle Vorgänge ans Licht kamen. Laut Berichten in „The Intercept“ und der „New York Times“ wurde wiederholt entschieden, trotz intern bekannter Probleme die Autos auf der Straße zu lassen. Das sei notwendig, damit die Fahrzeuge die Komplexität des Verkehrs zu meistern lernen.
Dass es solche Erfahrungen braucht, damit autonome Fahrzeuge in Zukunft sicher auf den Straßen unterwegs sein können, leuchtet ein. Verständnis dafür kann man in der Öffentlichkeit jedoch nur erreichen, wenn auch transparent über Probleme kommuniziert wird. Da die Anbieter autonomer Autos laut den amerikanischen Gesetzen nur sehr wenige Daten preisgeben müssen, muss hier die Initiative von dem Unternehmen selbst kommen. Und es gibt einiges aufzuholen. Laut einer Anfang Oktober veröffentlichten Umfrage von JD Power ist das Vertrauen der Verbraucher in die Technologie das zweite Jahr in Folge gefallen.
Kreuzfahrt wird nach dem Entzug der Zulassung nun mehr tun. Laut einem Bericht des Magazins «Forbes» hat die Führung in einem internen Meeting erklärt, sich statt auf rasches Wachstum auf den Aufbau von Vertrauen konzentrieren zu wollen. In einem Blog-Beitrag stellte das Unternehmen Schritte vor, wie das gelingen soll. Dazu gehören auch mehr «interne und externe» Transparenz sowie die neu geschaffene Position des Chief Safety Officer, die direkt dem CEO unterstellt ist. Eine Anwaltskanzlei Technologie sowie Berater wurden weiter beauftragt, den Unfall von Anfang Oktober und die Reaktion von Cruise darauf zu untersuchen.
Koopman geht diese Maßnahmen nicht weit genug. „Cruise sollte die Sicherheit seiner Fahrzeuge von unabhängigen Gutachtern umfassend untersuchen lassen und den Bericht öffentlich zugänglich machen“, sagt er. Koopman nennt als Vorbild Uber, das 2018 nach einem tödlichen Unfall während einer Testfahrt mit einem seiner autonomen Fahrzeuge in Arizona das Sicherheitsverfahren komplett reorganisierte. Inzwischen hat Uber den Geschäftsbereich jedoch verkauft.
Autonomes Fahren im Gegenwind
Kreuzfahrten stehen nun harte Zeiten bevor. Der Mutterkonzern General Motors hat von Januar bis September in diesem Jahr durch Cruise 1,9 Milliarden Dollar Verlust gemacht, 732 Millionen allein im dritten Quartal. Der Autobauer wird nicht darum herumkommen, zusätzliche finanzielle Mittel einzuschiessen.
Da seine Fahrzeuge immer noch stehen, hat Cruise inzwischen damit begonnen, Mitarbeiter zu entlassen. Betroffen sind Personen, die für die Reinigung, das Aufladen und die Wartung der Fahrzeuge sowie für die Beantwortung von Kundenanfragen zuständig waren. Auch die Entwicklung des Cruise Origin, eines autonomen Fahrzeugs ohne Steuerrad und Gaspedal für sechs Personen, wurde pausiert. Wann Cruise seine Dienste wieder aufnehmen wird, ist unklar.
Auch Waymo steht unter erhöhter Beobachtung. In Los Angeles, wo die Google-Schwester derzeit einen Testbetrieb für ihre Robotaxi-Dienste unterhält, hat Bürgermeisterin Karen Bass in einem Brief an die Regulierungsbehörde „ernsthafte Bedenken“ über die Sicherheit der autonomen Fahrzeuge gemeldet. Darin verwies sie auch auf den Vorfall in San Francisco. „Obwohl der Unfall von Cruise für Waymo unmittelbar keine Folgen hat, ist es ein Rückschlag für die gesamte Branche“, sagt Koopman.